ISBN: 978-3-941026-27-8

BVK, Buchverlag Krefeld, Postfach 101131, D-47711 Krefeld
www.buchverlag-krefeld.de

Man kann es hier lesen,
aber wer gerne gemütlich auf dem Sofa
in richtigem Papier blättern
oder
es verschenken möchte ?
Seit Februar 2011 kann man dieses Buch
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Alfred Busto

CAMIÓN - Ein Greenhorn in Kastilien

titel

Ein kleines Buch über das Auswandern nach Spanien.

Ein Odenwälder wandert aus nach Zentralspanien, weit weg von Stränden, Parties und Sangria. Um dort einen Job zu bekommen macht er den LKW-Führerschein. Auf humorvolle Weise beschreibt er in dem Buch den Ernst des dortigen Lebens, seine Erlebnisse und Gedanken auf spanischen, französischen, belgischen und deutschen Autobahnen und auch abseits davon.

Wie er in Le Mans eine Brücke rammt oder bei Paris von der Polizei umstellt wird kommt genauso darin vor wie ein Ausflug ins Land der Apfelbäume oder Beschreibungen seiner spanischen Familie. Beim Fahren philosophiert er über das Universum, die Lichtgeschwindigkeit und schwarze Löcher, über Gott, andere Götter und den Rest der Welt.

Also nicht nur ein Buch für Fernfahrer, Romantiker und Weltenbummler.
Auch Religionsphilosophen und Wissenschaftler haben hier was zu lachen.


Inhalt

Vorwort
Dienstag, 20.09.2005 - Von Valladolid ins Baskenland
Mittwoch, 21.09.2005 - Nachts in San Sebastián
Donnerstag, 22.09.2005 - Die 24 Stunden von Le Mans
Freitag, 23.09.2005 - Mit dem DAF in der Bretagne
Samstag, 24.09.2005 - Endlich wieder in Spanien
Sonntag, 25.09.2005 - Zuhause
Montag, 26.09.2005 - Über den Ebro
Dienstag, 27.09.2005 - Hundemüde in La Rochelle
Mittwoch, 28.09.2005 - Schon wieder in der Bretagne
Donnerstag, 29.09.2005 - Die Eidechsen von Irun
Freitag, 30.09.2005 - Start nach Belgien
Samstag, 01.10.2005 - Paris bei Nacht
Sonntag, 02.10.2005 - Mit Frédéric im Land der Apfelbäume
Montag, 03.10.2005 - Umstellt von 5 Blaulichtern
Dienstag, 04.10.2005 – Beinahe in Neauphle le Château
Mittwoch, 05.10.2005 - Vier Explosionen an einem Tag
Donnerstag, 06.10.2005 - Hasta la Vista und Adiós
Und so ging’s weiter . . .
- Brottransporte
- Autotransporte
- Zurück nach Deutschland ?


Vorwort

Das Schicksal verschlug mich nach Kastilien, die Liebe hatte ihre Magie entfaltet und mich aus meinem bisherigen Leben als Künstler, Gärtner und verschiedenen anderen Beschäftigungen heraus gerissen. Es dauerte nicht lange, ich wurde Vater und so beschloss ich, in Spanien zu bleiben. Die Vermarktungsversuche meiner Kunst waren so ernüchternd, dass ich immer öfter in den dortigen Stellenangeboten blätterte. Der spanische Arbeitsmarkt sah etwas anders aus als in Deutsch land: LKW-Fahren, Fabrikarbeit, Straßenbau und Fisch - zerlegung waren die einzigen Angebote, die ausreichend zu finden waren. Aus dieser Auswahl schien mir das LKW-Fahren am verlockendsten, eine reizvolle Variante, das wirk liche Spanien kennenzulernen; was mir fehlte, war nur der Führerschein. Ich besuchte zuerst eine Fahrschule in der Nähe. Die Schule in der dritten Etage innerhalb der Altstadt mit historisch anmutendem, klapprigen Fahrstuhl und die Leute dort, gefielen mir sehr gut. Fahrschüler, die ohne Maskenbildner direkt in einem französischen Road-Movie der sechziger Jahre an der Seite von Jean Gabin am Steuer eines Camións hätten spielen können und auch der Fahrlehrer „El Professor“, ein spanischer Jean Pütz, dem die Begeisterung für seinen Beruf über die Jahre der Routine eher gewachsen als abhanden gekommen zu sein schien. Trotzdem gab ich mich nach 14 Tagen geschlagen. Für 300 Seiten Technik und 200 Seiten Verkehrsregeln auf spanisch waren meine Sprachkenntnisse doch nicht ausreichend, um in überschaubarer Zeit in die Nähe eines Prüfungstermins zu rücken. Ich fuhr zurück nach Deutschland und bekam kurze Zeit später den neuen Führerschein mit den Worten in die Hand gedrückt: „Jetzt aber nicht überheblich werden, diese Karte ist nur eine Lizenz zum Üben und kein Diplom für Können!“


Dienstag, 20.09.2005 - Von Valladolid ins Baskenland

Viertel vor neun, hat Carmen gesagt, soll ich da sein. Ich bin da, aber das Büro ist zu, keiner da ? Fängt ja wieder gut an. Als ich gestern Abend hier war, wollte ich eigentlich nur fragen, ob sie noch Fahrer brauchen und wenn ja, so in ein, zwei Wochen anfangen. Aber Carmen, die kurvenreiche, für eine Spanierin unglaublich blonde Nichte von Don Pepito, dem Boss, hat mich totgeredet und in Windeseile einen Arbeitsvertrag unterschreiben lassen und gesagt, ich müsste unbedingt morgen anfangen. Ich sollte allerdings nur einen Hänger nach Madrid fahren und wäre abends wieder zu Hause. Dass ich noch nie einen Sattelauflieger an- und abgehängt hatte, wäre auch kein Problem, ihr Schwager würde mir das morgen schon zeigen. Um halb zehn kam sie dann auf einem Roller angerauscht und hat mir im Büro meine Ausstattung: Handschuhe, Warnweste, Ladungssicherungsgurte usw. in die Hand gedrückt, was ich auch wieder mit einer Unterschrift quittierte. Danach schickte sie mich runter zu ihrem Schwager in den Hof, der mich an einem DAF 95 XF, der in einer langen Reihe anderer Fahrzeuge stand, schon ungeduldig erwartete. Genauso hektisch wie vorher seine Schwägerin mir meine Ausstattung in die Hand gedrückt hatte, kurbelte er den Auflieger hoch, fuhr drunter, ließ ihn wieder ab, rastete ein, schloss alle Kabel und Schläuche an und drückte mir den Schlüssel in die Hand. Ich fragte noch, ob ich denn wenigstens vorher nochmal eigenhändig ab- und wieder anhängen dürfe, aber er meinte ich müsste sofort los nach Gijón an der asturischen Atlantikküste, wo man schon auf mich warten würde und dann nach Beaune in Frankreich; weiß der Teufel, wo das ist. Er ließ mir noch nicht mal Zeit, vorher zu Hause noch paar meinen Schlafsack aus dem Auto holen. Dafür, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben am Steuer eines 40t-Sattelzuges saß, war ich nach den ersten Metern schon erleichtert, dass ich das Tor nach draußen auf Anhieb getroffen hatte und den ersten Kreisel und die erste Kreuzung ohne Karambolagen durchschiffte. Auf den ersten Kilometern ins innere Valladolids, bis zur Strasse nach León, war es dann schon etwas enger, aber dank der guten Ausstattung an Spiegeln in alle Richtungen gelang es mir unter voller Konzentration jeden Blechkontakt mit anderen Fahrzeugen zu vermeiden. Nachdem ich dann noch die Abzweigung nach rechts gemeistert hatte, ging’s eigentlich bis ans knapp 300 km entfernte Ziel nur noch geradeaus. Zuerst ein paar Kilometer bergauf, am Flughafen Villanubla vorbei, durch Medina de Rioseco und hinter León ging es dann in die Berge. Zum Luft anhalten schön, aber ebenso zum Luft anhalten schien mir jedes Mal, wenn es bergab ging – und hier ging’s ziemlich oft ziemlich lange bergab, so dass der Retarder, der verhindern soll, dass die normalen Bremsen bei zu ausdauernder Benutzung heißlaufen, entweder nicht funktionierte oder ich zu blöd war, ihn einzuschalten. Na ja, gegen Gijón hin wurde es wieder flacher und beim ersten Industriegebiet, welches sich bot, fuhr ich von der Autobahn runter, um jemanden zu finden, der eventuell die Adresse kennen könnte, zu der ich hinsollte. Hinter einer genügend breiten Kurve parkte ich in zweiter Reihe, stieg aus und bevor ich mich umschauen konnte, wen ich nun nach dem Weg fragen könnte, kam auch schon ein asturisches Polizeiauto mit zwei Beamten angesaust, die mir sagten, dass ich hier aber nicht stehenbleiben könne. Nachdem ich mich als ausländischen Fahranfänger geoutet hatte, der eine Adresse suchte, erklärten sie mir freundlich und geduldig den Weg, bis es den Anschein hatte, dass ich alles verstanden hätte. Als sie mich aufforderten, endlich weiterzufahren, erwiderte ich, dass ich vorschriftsmäßig nach 4½ Stunden Fahrzeit jetzt erstmal 45 Minuten Pause machen müsste. „Aber bitte nicht hier“, baten sie mich höflich und erlaubten mir unvorschriftsmäßig an eine geeignetere Stelle weiterzufahren, was ich dann auch tat. Als ich meinen Platz gefunden hatte und den Motor abstellte, rief auch schon mein Boss an und fragte mich, ob ich denn schon geladen hätte. Im Gegensatz zu Don José, meinem ersten Boss, einem mafiös ausschauenden Schlipsträger mit schwarzer, süddeutscher Luxus limousine, war Don Pepito eher ein hemdsärmeliger Bär mit einem Kopf und einer Stimme wie ein Rottweiler. Ich hatte es fast zwei Monate bei Don José ausgehalten, bevor ich bei Don Pepito anheuterte: Meine erste Fahrt führte mich in 72 Stunden nonstop mit 90 km/h von Valladolid nach Zwickau und zurück. Copilot Fernando und ich wechselten uns mit Schlafen und Fahren ab. Nachts um 1:30 Uhr fuhren wir auf der A5 genau an der Stelle an Darmstadt vorbei, an der ich genau vier Wochen vorher meinen Führerschein bekommen hatte. Fernando fragte mich noch, wie weit es zu meinen Eltern wäre, wir könnten sie auf einen Sprung besuchen? Ich lehnte dankend ab, für maximal 10 Minuten wollte ich meine Eltern um diese Uhrzeit nicht aus dem Bett werfen. Dafür warf ich sechs Stunden später meinen Boss aus dem Bett, um mich zu beschweren, dass wir endlich mal richtig pennen müssten, es gäbe doch Vorschriften. Er meinte nur erbost, ich solle ihn niemals wieder um diese Uhrzeit aus seinen Träumen reißen und ihn gefälligst erst ab 9:00 Uhr im Büro anrufen. Als wir wieder heil zurück waren, meinte Don José, dass ich ja recht hätte und wir uns an die Vorschriften halten müssten. Allerdings bekam ich jetzt erstmal nichts mehr zu fahren, sondern er beschäftigte mich von morgens bis abends mit Parkplatz fegen oder Lkw waschen oder lackieren. Wenn ich nochmal auf die Piste geschickt wurde, war das nachts oder während der Mittagspause, wofür es keinen Cent gab, weil erst ab 200 km fern der Heimat 5 Cent pro Kilometer zum dürftigen Basisfixum hinzugerechnet wurden. Oder ich fuhr mit einem Freund des Bosses durch Frankreich, dass der mir mal zeige, wie in Spanien der Hase läuft. Als ich mit diesem alten Sack über eine gewaltige Seine- Brücke bei Le Havre fuhr, bedauerte ich es, nicht am Steuer zu sitzen. Ich stellte mir vor, den Camión durch die Brüstung in den weit unter uns dahinfließenden Strom zu steuern, ans Ufer zu schwimmen und den alten Sack absaufen zu lassen. Dieser Traum blieb aber ein Traum, ich begnügte mich damit, ihn damit zur Weißglut zu bringen, dass ich in keinster Weise auf seine Provokationen einging und mit stoischer Gelassenheit seine Gemeinheiten ertrug, so, als ob das alles völlig normal wäre. Nur einmal wurde ich alleine aus der 200 km-Zone hinausgeschickt: An einem Sonntagmittag fuhr ich los, beladen mit einer irre schweren Kiste für ein Kernkraftwerk in Ascó, unweit von Barcelona. Diese fast unwirklich schönen Gebirgskulissen wie auf einem anderen Stern, bei deren Anblick mir Tränen der Ergriffenheit in die Augen stiegen – das Kraftwerk am Ufer des Ebro wirkte wie eine futuristische Mondbasis – sind meine einzigen guten Erinnerung an meine Zeit bei Don José. Wenige Tage, bevor ich bei Don Pepito anfing, ist mir im Büro von Don José der Kragen geplatzt und ich habe mich von jetzt auf gleich von ihm und auf Nimmerwiedersehen verabschiedet. Irgendwann hatte ich doch genug davon, mir selbst und Miriam zu beweisen, wie lange ich es aushalten würde, mich verarschen zu lassen. Das einzige was ich dieser Firma zu Gute halten konnte, war, dass der vereinbarte Lohn auf den Cent genau bezahlt wurde. Zurück zu meinem Telefonat mit Don Pepito: Er schnaufte etwas, blieb aber ruhig, als ich ihm sagte, dass ich zwar schon in Gijón wäre, mich aber erst nach Einhaltung meiner Standzeit auf die Suche nach meiner Ladestelle machen könne. Ich fragte ihn auch, ob es möglich wäre, dass der Retarder kaputt sei. Da er meinte, dass das ausgeschlossen sei, da ich ein technisch einwandfreies Fahrzeug übernommen hätte, ließ ich es gut sein und beruhigte mich damit, dass die Küstenstraße zur französischen Grenze keine wirklich hohen Berge mehr hatte. Der Westen Frankreichs, wo ich Beaune bis dahin vermutete, ist dann sowieso weitestgehend ziemlich flach. Als ich schließlich weiterfuhr, kam ich nach einigen weiteren Irrungen und Wirrungen gegen 16:00 Uhr endlich im Zielgebiet an, wo ich auch ein Schild mit dem Namen der gesuchten Fabrik entdeckte. Als ich einen Kreisel durchfuhr, während ich gleichzeitig auf dem Schild vergeblich nach einem richtungsweisenden Pfeil suchte, bemerkte ich nicht, dass ich mit meinen drei Hinterachsen eine Baustellenabsperrung in ein Feld frisch gegosse nen Betons hineinquetschte. Erst als ich in diversen Spiegeln wild gestikulierende Bau - arbeiter entdeckte, hielt ich es für besser, nach einem Parkplatz zu suchen, den ich natürlich nicht fand. Aber ich blieb trotzdem stehen. Ich stieg aus, lief zur Baustelle zurück, wo ich schon schaufelschwingend empfangen wurde. Nachdem ich mich wieder einmal und ebenso wild gestikulierend und zutiefst erschüttert über mein Missgeschick, als ausländischer Fahranfänger geoutet hatte „estoy aleman, es mi primer dia, que catastrofe, podeis matarme“ (bin Deutscher, ist mein erster Tag, was ‘ne Katastrophe, ihr dürft mich umbringen), kam auch schon der Vorarbeiter und beruhigte mich mit den Worten: „Ist ja nur Beton, niemand ist tot, alles halb so schlimm“, ich soll mich beruhigen und weiterfahren ... Ich fragte ihn noch, ob er die von mir gesuchte Fabrik kennen würde; und zu meiner großen Freude konnte man sie von hier aus sogar schon sehen, nur das Schild auf dem Dach wurde dummerweise durch ein anderes Gebäude verdeckt. Ich musste nur kehrtmachen und dann im Kreisel die nächste Ausfahrt nehmen. Da man 18 Meter, vor allem als Greenhorn, nicht so leicht wendet wie ein Fahrrad, musste ich mich erst noch drei Kilometer durch die nächste Ortschaft schlängeln, bis ich an einer Straße mit noch mehr Müll an den Straßenrändern, wie ich es von spanischen Straßen ohnehin schon gewohnt war, auf eine Schotterfläche stieß, die groß genug war, um in einem Rutsch wenden zu können. Als ich wieder durch den Kreisel kam, wurde ich freundlich gegrüßt und mit überdeutlichen Handzeichen hat man den deutschen Anfänger daran gehindert, die richtige Ausfahrt nochmal zu verpassen. Es war mittlerweile bestimmt schon 17:00 Uhr, als ich endlich das Fabriktor passierte. Der Pförtner wies mir meinen Warte - parkplatz an, in den ich rückwärts einfahren sollte. Auch ohne mich schon wieder als deutscher Fahranfänger zu rechtfertigen, hat er bestimmt bemerkt, dass ich noch nicht sehr lange den Führerschein hatte. Da ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte und außer nichts zu essen auch nur zwei Fünf-Euroscheine und ein paar Münzen bei mir hatte, fragte ich mich nach zwei Stunden des Rumsitzens (wobei man mich doch angeblich hier dringendst erwarten würde), wo ich hier etwas zu essen finden könnte. Der Pförtner schickte mich ins Gelände, wo ich auch einen Automaten fand, der allerdings außer Pulverkaffee nichts zu bieten hatte. Wieder zurück beim Pförtner, fragte ich ihn, ob ich denn genug Zeit hätte, mir zu Fuß was zu beißen und einen Geldautomaten zu suchen. Eine Bank wusste er keine, aber ein paar hundert Meter die Straße rauf müsste eine Kneipe sein. Ich zog los und fand tatsächlich die Kneipe, in der es allerdings nur ein paar halb vertrocknete Weißbrotscheiben mit ziemlich verschwitztem Chorizo-Aufschnitt gab. Ich zog es vor, erstmal nach einem Bankautomaten zu fragen, bevor ich mein letztes Geld in dieser Höhle lassen würde. Mir fiel ein Stein vom Herzen als ich nach wenigen hundert Metern tatsächlich eine Zweigstelle der Banco de Asturias fand. Komischerweise wollte deren Automat aber kein Geld ausspucken und teilte mir jedes Mal etwas mit, was ich so verstand, dass auf meinem Konto kein Guthaben verfügbar wäre. Das gibt’s doch gar nicht, kann nicht sein, dieser Automat muss kaputt sein. Ich rief Miriam an, auf meinem Kartenhandy war zum Glück noch etwas drauf, weil Handyaufladen mit leerem Konto ja auch nicht gegangen wäre. Sie wolle sich drum kümmern und bei meiner Bank nachfragen. Ich machte mich dann erstmal wieder auf den Rückmarsch und hatte mir dann doch in der am Weg liegenden Höhle zwei von diesen „leckeren“ Wurstbroten mit einem ebenso schrecklichen Rotwein für 3,60 Euro geleistet; meine letzten Kröten musste ich einfach zusammenhalten ... Kaum war ich wieder auf der Straße, rief mein Boss an, um zu fragen, wo ich denn stecken würde. Er schnaufte wieder ziemlich, blieb aber ruhig, als ich ihm sagte, dass ich immer noch auf meine Ladung warten würde. Als ich schon fast wieder bei der Fabrik angekommen war, rief Miriam zurück und sagte mir, dass sie im Internet recherchiert habe, dass auf meinem Konto tatsächlich nur noch 78 Cent wären, der Scheck von Don José über ca. 1200 Euro, den ich letzten Freitag eingezahlt hatte, würde erst am morgigen Mitt - woch gutgeschrieben. Sie hätte mir aber 200 Euro überwiesen, die jetzt verfügbar wären. Super, nochmal lauf ich aber nicht bis zur Bank, am Ende funktioniert der Automat doch nicht und außerdem bin ich vielleicht endlich mit Laden an der Reihe. Gegen 21:00 Uhr saß ich immer noch in meinem DAF; und kurz bevor ich fast eingeschlafen war, wurde ich endlich angewiesen, zur Ladestelle zu kommen. Während der 1½ Stunden des Aufladens von endlos vielen, endlos langen und ebenso schweren Kisten konnte ich mich erstmals darin üben, beiderseits sämtliche Planen und Bretter zu öffnen und wieder zu schließen. Das Heben der Kisten übernahm zum Glück ein Gabelstapler, die Planenmechanismen habe ich nach einigem Herumprobieren trotz mittlerweile ziemlicher Müdigkeit noch gemeistert. Aber die Seitenwandbretter habe ich beim besten Willen nicht alle wieder reinbekommen. Die immer wieder übrigbleibenden waren entweder zu kurz oder zu lang, schließlich hab ich sie auf dem Boden liegen lassen. Da die Ladung zum Schluss mit meinen sämtlichen Zurrgurten gesichert war, glaubte ich, auf einige Seitenwandbretter auch verzichten zu können. Bis ich gegen 22:30 Uhr wieder zum Fabriktor hinausfuhr, klingelte außerdem unzählige Male das Telefon, entweder war es mein zwar schnaufender, aber ruhig bleibender Boss, oder, als der nicht mehr konnte, sein Neffe. Da ich wegen meiner Müdig keit die Anrufer stimmlich nicht mehr sofort auseinanderhalten konnte, fiel mir erst nach einer Weile auf, dass es noch einen dritten Anrufer gab, der sich auf meine Frage, wer er denn sei, als sowas wie den Arbeitgeber meines Bosses zu erkennen gab, in dessen Macht es läge, ob mein Boss Arbeit für mich hätte oder nicht. Ich weiß nicht mehr, wer mich wann wohin schicken wollte, es war ein ständiges Hin und Her neuer Anweisungen. Ich weiß nur noch, dass mein Boss mich irgendwann, zwischen Gijón und Santander, bat, noch bis ins 360 Kilometer von Gijón entfernte Oiartzun-Lintzirin bei San Sebastián zu fahren und unterwegs bei Torrelavega zu tanken. Obwohl er sich bei den Ortsnamen stöhnend um verständliche Aussprache bemühte, blieb mir nichts weiter übrig als auf dem Standstreifen zu parken und mir diese undefinierbaren Laut - kombinationen buchstabieren zu lassen, aber dann fand ich sie sogar auf der Landkarte. Ich konnte zwar beim besten Willen nicht sagen, wie weit ich heute noch kommen würde, von meinen zweiten 4½ Stunden Tagesfahrzeit hatte ich die erste Stunde schon in den Kreiseln und Autobahnen im Süden Gijóns mit Suchen vergeigt, aber ich tröstete ihn, dass ich noch soweit fahren würde, wie ich könnte. Meine letzte Anweisung kam aber schließlich vom Boss meines Bosses, der mich fragte, ob ich wenigstens noch bis zur Mariposas-Basis bei San Roman hinter Vitoria-Gasteiz fahren könnte. Er widersprach mir zwar, als ich meinte, dass das ja auch nicht viel näher wäre, nein das wären mindestens 100 km weniger, ich könnte keine Karten lesen. Aber ich hab die Strecken später gegoogelt – sie sind doch gleich lang. Also er fragte, ob ich noch bis San Roman fahre. Ich erwiderte, dass kommt drauf an, wie weit ich in drei Stunden komme, weil in drei Stunden hätte ich Feierabend. Er meinte, das wäre keine Antwort, er wolle wissen, ob ich nach San Roman fahre oder nicht. Ich meinte nochmals, das könne ich nicht sagen, weil auch, wenn ich über meine erlaubte Fahrtzeit hinaus fahren würde, könnte ich nicht versprechen, am Ziel anzukommen, wenn ich z.B. vorher einschlafen und gegen eine Brücke fahren würde. Er meinte nochmal, dass das keine Antwort wäre und das es in seiner Macht läge, ob mein Boss auch in Zukunft Arbeit für mich hätte. Er wolle ein schlichtes JA oder NEIN hören. Na gut, dann sagte ich jetzt mal JA, aber er solle sich nicht wundern, wenn die Fracht überhaupt nirgends mehr ankäme. Als ich Asturien und Kantabrien hinter mir gelassen hatte und ich glaubte sogar, irgendwo da links unten im Dunkel das Guggen heim-Museum zu erkennen, aber das hatte ich schon begriffen: in einem Camión kommst du zwar viel rum, aber nirgends hin, du rauschst überall nur dran vorbei. Nach San Roman sind es noch schlappe 100 km. Als ich an Vitoria-Gasteiz vorbeifuhr, Vitoria ist der spanische Name und Gasteiz der baskische, war ich mittlerweile so müde, dass ich schon halluzinierend Personen auf der Fahrbahn sah, aber da ich wundersamerweise noch helle genug war, sie auch als Halluzinationen einzuordnen, machte ich zum Glück keine ruckartigen Ausweichmanöver. Ich schaffte es noch, die Augen bis zur Ausfahrt San Roman offen zu halten, fuhr gegen 4:00 Uhr in den Hof, parkte, weiß nicht wie, noch rückwärts ein und fiel wie ein Stein hinter den Sitz in die dort schon ewig auf mich wartende Matratze.


Mittwoch, 21.09.2005 - Nachts in San Sebastián

Gegen 6.00 Uhr hämmerte es an die Tür, es war ein kleiner Katalane, der Loriot oder so ähnlich hieß, er käme gerade aus Barcelona und hätte den Auftrag, meinen Hänger so schnell wie möglich nach Beaune bei Dijon zu ziehen. Aha, da ist also dieses Beaune. Da hätte ich mit meinem kaputten Retarder doch noch über einige Höhen fahren müssen. Wir hängten also bei mir ab und bei ihm wieder an. Ich meinte dann, was machen wir mit meinen Ladungsgurten, für die muss ich ja bei Verlust haften, ob er mir nicht seine dafür geben könnte ... oder sollen wir uns jetzt damit rumquälen, meine runter zu wurschteln und seine rauf? Er meinte, er hätte keine, aber wir haben auf dem Frachtzettel notiert, dass das meine Gurte wären, die würde ich dann schon wiederbekommen, schließlich segelten wir ja sozusagen beide unter der Flagge von Mariposas. Ich wusste in diesem Moment zwar noch nicht, dass meine leichten Zweifel an Loriots Seriosität durchaus begründet waren (um einen Satz Gurte zu ersetzen muss man ungefähr eine halbe Woche arbeiten), aber ich war zu müde, um mich weiter damit zu befassen und ließ ihn abziehen. Um weiterschlafen zu können, parkte ich die Zugmaschine ganz am Ende des Geländes, wo etwas weniger Lärm war. Als ich gegen 11:00 Uhr aufwachte, hab ich mich ein bisschen umgeschaut und befand mich in einer wohltuend schönen Gebirgs - kulisse mit blauem Himmel ringsum: direkt an der gerade noch baskischen Autovia del Norte, bevor diese eine kleine Schleife durchs benachbarte Navarra macht, um hinterher über San Sebastián nach Frankreich zu führen. Da das Telefon nicht klingelte, lief ich ein bisschen herum. Als ich zum Ein- und Ausfahrtstor hinausspazieren wollte, rief eine Stimme von hinten, wo ich hin wolle und wieso ich keine Warnweste tragen würde. Ich drehte mich um und meinte zu der kleinen Rothaarigen, die aus ihrem Wachthäuschen an den Diesel-Zapfsäulen herausgekommen war, wo sie auch Buch zu führen hatte, welche Fahrzeuge und Personen das Gelände betraten und verließen, dass ich nur mal gegenüber in dem Hotel-Restaurant- Tankstellen-Shop nachsehen wollte, ob es dort Kaffee gäbe. Da müsse ich mich aber erst bei ihr abmelden und außerdem vorher noch meine Warnweste aus dem Fahrzeug holen und überziehen, ohne die niemand auf dem Gelände herumlaufen dürfte. Nachdem ich nochmal bis ans andere Ende und wieder zurück gelatscht war, meldete ich mich bei ihr ab und suchte in dem Hotel-Restaurant-Tankstellen-Shop nach einem Geldautomaten, konnte aber keinen finden. Die nächste Ortschaft war recht weit weg und sah auch zu klein aus, als dass es den Versuch wert gewesen wäre, dort zu Fuß nach einer Bank zu suchen. Nachdem ich in der Hotelcafeteria trotzdem zwei Tassen Kaffee und zwei Croissants gefrühstückt hatte, blieben mir noch fünf Euro. Als ich mit Miriam telefonierte, meinte sie, dass ich in der Tankstelle doch garantiert auch mit Karte einkaufen könnte und tatsächlich, jippieh, das ging. Ich hab mir dann erst mal eine Tüte Fressalien gekauft und mich dann, nachdem ich mich bei der kleinen Rothaarigen wieder zurückgemeldet hatte, in meinem DAF noch eine Runde hingelegt. Als ich wieder wach wurde, wollte ich die Zeit schonmal nutzen, um an die Tanksäulen zu fahren; bis ca. 800 Liter getankt sind, dauert es schließlich eine Weile. Die Nummer Zwei von zwei Säulen war besetzt, also tippte ich, nachdem ich die Tankkarte eingeschoben hatte, auf Nummer Eins. Nichts, es passierte gar nichts. Noch mal Karte raus und wieder rein, wieder nichts. Meine Freundin von vorhin kam heran und probierte es auch, wieder nichts. Dann meinte sie, Nummer Eins müsse wohl kaputt sein, also warten, bis die Zwei wieder frei ist. Als diese endlich wieder frei war, starteten wir einen neuen Versuch, diesmal an der Zwei, aber die Sonne stand so ungünstig, dass wir die weiteren Anweisungen im Display nicht lesen konnten. Sie ging einen Kollegen fragen, ob er die Anweisungen auswendig wüsste und ich hab es währenddessen noch einmal alleine probiert. Mit größter Mühe konnte ich entziffern, dass der Apparat den Kilometerstand meines Fahrzeugs wissen wollte; ich also ins Führerhaus gekrabbelt, nachgelesen und auf einem Zettel notiert. Bis ich wieder draußen war, hatte sich schon ein Neu - ankömmling auf eine freie Spur geschoben und wieselflink für „meine“ Säule Nummer Zwei alle Angaben eingetippt. Ich schaute den eigentlich unschuldigen Drecksack nur giftig an, sagte aber nichts. Meine Komplizin kam gerade zurück und motzte ihn lautstark, aber in unverständlichem Dialekt an. Der Dicke schaute nur ganz betroffen und meinte, ich könnte doch die Nummer Eins nehmen, er konnte ja nicht wissen, dass die kaputt war. Also wieder warten, ich hab nicht auf die Uhr geschaut, aber es zieht sich wie Kaugummi, bis so ein XXL-Tank wieder voll ist. Kurz bevor es soweit war, kam ein anderer vorbei, öffnete den Automat, fingerte eine Weile drin herum, machte die Klappe wieder zu und meinte: So, läuft wieder, jetzt konnte ich auch mit Nummer Eins wieder tanken. Als ich (bzw. der Lkw) endlich abgefüllt war, fuhr ich zu meinem Park- und Schlafplatz zurück. Aber statt mich schon wieder hinzulegen, schickte ich eine SMS an Aurelia, eine Freundin aus Paris, die zur Zeit einen spanischen Freund aus Bilbao hatte: „Hola Aurelia, since tuesday new job. This morning at 3.00 I crossed Bilbao.” Eine Minute später rief sie an, um Hallo zu sagen; na so ein Zufall, nicht nur, dass ihr Herzblatt in Bilbao lebt, wo ich durchgefahren bin, er fährt auch noch täglich nach Vitoria, wo er zur Zeit arbeite ... ich bin also ganz in seiner Nähe. Aber da Auslandsgespräche mit einem Handy ziemlich teuer sind, haben wir ganz schnell wieder aufgelegt. Gegen 14.00 Uhr bin ich, nicht ohne diesmal die gelbe Warn - weste zu vergessen, ins nebenan liegende Gasthaus und hab ein sehr leckeres und günstiges Menü verdrückt. Da, wo viele Camiones stehen, ist das gastronomische Preis-Leistungs- Verhältnis oft sehr gut. Und ich konnte hier sogar auch, wie an der Tankstelle, mit meiner spanischen Kreditkarte zahlen, was gestern noch nicht gegangen wäre. Danach lief ich noch bisschen rum, bevor ich wieder in meinem DAF Platz nahm. Bald wird bestimmt wieder das Telefon klingeln, wollte aber auch nicht anrufen und fragen was los ist, ich muss ja keine schlafenden Hunde wecken. Wenn ich gewusst hätte, dass mein Boss sich erst wieder um halb acht meldet, hätte ich wohl versucht, noch etwas zu schlafen. Als ich so da stand und ins Gebirge schaute, schob sich neben mir ein Zug in die Lücke, dessen Tür-Aufkleber mir verriet, dass der Kollege auch für Don Pepito unterwegs war. Er hieß Genko oder so ähnlich und stammte aus Bulgarien. Ob ich denn schonmal Geld bekommen hätte, wollte er von mir wissen. Ich erwiderte, es wäre ja erst mein zweiter Tag, da müsste ich wohl noch etwas warten. Er meinte, er arbeite schon seit drei Monaten bei Pepito und hätte immer noch nichts bekommen. Das sind ja tolle Nachrichten, dachte ich, dachte aber nicht weiter drüber nach und döste weiter vor mich hin. Punkt halb acht klingelte es dann aber und unser Boss schickte mich ohne Hänger nach Lintzirin, was ich nicht lange suchen musste, ich hatte es ja schon gestern auf der Karte gefunden. Ich solle dort auf einem Stellplatz zwischen einem Hotel und einem Supermarkt einen Auflieger anhängen und nach Le Mans fahren. Ich fuhr also ohne Anhänger los und ich muss schon sagen, so ein unbeschwerter Traktor hat schon ganz schön Dampf, auch wenn’s die Berge hochgeht. Auf der Autovia del Norte gings an Olazagutia vorbei zuerst ´ne Weile in heißen Kurven bergauf, aber schon bald, bis San Sebastián, was bei den Basken Donostia heisst, nur noch bergab, doch ohne Last hinten dran, registrierte ich kaum, dass der Retarder kaputt war. Die Gegend dort ist völlig anders als Kastilien. Während Kastilien in weiten Teilen durch seine öde, weite Leere eher an Texas oder Arizona erinnert, wie man es aus dem Fernsehen kennt, kommt man sich hier eher vor wie in den Alpen. Und alles so strotzend vor Grün, wie es für mich in Deutschland immer selbstverständlich und nichts Besonderes gewesen war. Gegen 21:00 Uhr hatte ich Lintzirin gefunden und auch bald das Hotel und den Supermarkt, wo der Platz sein sollte, auf dem die Hänger stehen. Der freundliche Pförtner im Schrankenhäuschen des Geländes zeigte mir auch noch, wo meine Fracht steht, aber da nebenan ein Carrefour war, ging ich erstmal einen Bankautomaten suchen. Nachdem ich mir 150 Euro gezogen hatte – und das für nur 60 Cent Gebühren – hab ich mir gleich noch 'ne Flasche Wasser und 'ne Flasche Orangenlimo gekauft. Als ich wieder an meinem Arbeitsplatz ankam, versuchte ich mich krampfhaft zu erinnern, was mir der Neffe des Chefs gestern Morgen gezeigt hatte. Es war auch schon so dunkel, dass ich die Teile, an die ich mich bei Licht vielleicht hätte erinnern können, kaum sah. Also erst einmal druntergefahren und dann versucht, den Auf - lieger mit dieser schon ziemlich ausgenudelten Kurbel runterzuleiern. Aber ganz egal, in welche Richtung ich an der Kurbel drehte, es bewegte sich nichts – so’n Mist. Ich bin dann zum Pförtner gelaufen und hatte gehofft und eigentlich auch fest geglaubt, dass der weiß, wie’s geht. Pustekuchen, er war zwar so freundlich mich zu begleiten, stand dann aber nur achselzuckend daneben, als ich mich an den Hebeln und Kurbeln verausgabte. Sein Gesicht drückte zwar so etwas wie Mitleid aus, aber eher noch Freude darüber, dass sein Job lediglich darin bestand, zu sitzen und die Schranke auf- und zuzumachen. Ich hab an der Kurbel gezogen und gedrückt, gekurbelt und dagegen getreten. Als ich schließlich mit einer als Hammer missbrauchten Zange hier und da mehr oder weniger sanft dagegen gehämmert hatte, bewegte sich auf einmal was. Ich konnte es kaum fassen – jetzt klappte es. Also den Auflieger runtergekurbelt, bis er auf der Zugmaschine auflag und die Stellfüße frei in der Luft hingen und diese dann hochgeklappt. Jetzt nur noch die Kabel und Schläuche richtig verbinden, dann müsste ich doch noch vor Mitternacht hier wegkommen. Die Kabel gingen ja noch recht einfach, aber diese Luftschläuche wollten einfach nicht dichthalten. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich drehte und drückte, bis das Zischen wenigstens nur noch ganz leise war. Sind ja immerhin die Bremsen, deren Sein oder Nichtsein davon abhängt, ob so ein Luftschlauch dichthält oder eben nicht ... Jetzt noch das Nummernschild. In Spanien hat jeder Hänger zwei Nummernschilder, links das Hängereigene und rechts jeweils eine Kopie des Schildes des jeweiligen Zugfahrzeugs. Das war dann schon die nächste Hürde, hier gab es keine Haltefedern, mit denen das Schild ganz leicht anzubringen gewesen wäre, sondern nur einen seitlichen Einschub, der allerdings so verbogen war, dass kein Schild hineinpasste. Ich versuchte das Krumme mit der Zange grade zu kriegen, das klappte aber nicht so richtig. Schließlich missbrauchte ich die Zange wieder als Hammer und schlug das Nummernschild mit Gewalt an seinen Platz, das „N“ von „9127 XZN“ war sowieso schon abgebrochen, das „Z“ würde es auch nicht mehr lange machen. So, jetzt nur noch den Traktor in den Zapfen fahren bis es „klack“ macht, also Sperrfeder öffnen, einsteigen und Rück wärts - gang bis es ziemlich „klack“ gemacht hat ... bin ich schon drin? Bin dann ausgestiegen und hab mal nachgesehen, soweit man bei dieser Dunkelheit überhaupt etwas sehen konnte, aber der Bums scheint gesessen zu haben. Wieder eingestiegen und vorwärts, da ich im Spiegel nicht richtig sehen konnte, ob der Hänger sich mitbewegt, lieber noch mal ausgestiegen und nochmal geschaut. Da hab ich aber noch mal Glück im Unglück gehabt, ich hätte mir zwar in den Arsch beißen können, dass der Hänger sich keinen Millimeter bewegt hatte, d.h. er hing nicht, aber wenn ich noch einen Meter weitergefahren wäre, wäre er auf den Boden gekracht – dann hätte ich mich wohl am besten erschossen. Was nun? Nochmal dasselbe probieren? Und wieso ist die Zugmaschine so gehüpft beim Anfahren? Keine Ahnung! Mein Freund, der Pförtner, wusste auch keinen Rat. Gegen halb elf kam aus dem Dunkel ein Lkw und stand an der Schranke, jetzt hatte mein Freund endlich eine gute Ausrede, mich nun verlassen zu müssen. Als die Schranke offen war und der Zug an mir vorbeifuhr, winkte ich den Fahrer heran und erklärte ihm mein Miss - geschick. Er war sehr freundlich und legte schneller Hand an als ich gucken konnte und meine Verbindung stand schließlich. Es ging natürlich wieder zu schnell, als dass ich etwas hätte lernen können. Er versicherte mir noch, dass es jetzt wirklich halten würde, hatte aber keine Zeit für weitere Erklärungen. Kurz nach elf konnte ich mich endlich auf den Weg machen, war allerdings etwas verunsichert, dass die Zugmaschine beim Anfahren einfach nicht aufhören wollte buchstäblich in die Luft zu springen. Ich fuhr aus dem Tor, bog in den Autobahnzubringer ein, verpasste noch mal eine Brücke, konnte aber zum Glück bald wenden und kam auf die Autobahn, aber bei jedem Anfahren sprang ich wie ein Frosch. Ich kam jedoch heil über die Grenze und durch die ersten französischen Mautstationen, bis die Autobahn ungefähr auf der Höhe von Biarritz mautfrei wurde und ich das Geschoss rollen lassen konnte. Obwohl ich Anhalten und Losfahren wegen des Springens möglichst vermeiden wollte, musste ich doch ab und zu eine Kaffeepause machen. Hinter Bordeaux, wo die Autobahn wieder Geld kostet, musste ich dann auf die Landstraße runter, die sich aber großenteils kaum von einer Autobahn unterscheidet und rollte die ganze Nacht über Angoulême, Poitiers, Tours ...


Donnerstag, 22.09.2005 - Die 24 Stunden von Le Mans

.. in Richtung Le Mans, wo ich gegen 10:00 Uhr ankam. Ungefähr 20 km vor der Stadt hielt ich am Rand der N 138 und lief über die Straße in eine Tankstelle, um nach dem Weg zur Avenue Pierre Piffault zu fragen, in der sich eine Firma namens ACI befinden sollte. Da nirgends ein Stadtplan an der Wand hing, öffnete mir die freundliche ältere Tankstellenpächterin eine Karte aus dem Ver - kaufs regal und wir fanden schnell, wonach ich suchte. Als sie mir den Plan einpacken wollte, meinte ich, dass ich mir meinen Weg schon eingeprägt hätte und den Plan nicht bräuchte, ich könne mir schließlich nicht von jeder Stadt zu der ich komme, wegen nur einer Adresse einen Stadtplan kaufen. Sie schien zwar Verständnis zu haben und sagte freundlich „au revoir“, machte aber trotzdem ein Gesicht, als ob sie in Wahrheit sauer war, dass ich das gute Stück nicht gekauft hatte. Kurze Zeit später rollte ich durch die Avenue Pierre Piffault und suchte die Hausnummer 15, die aber noch ein gutes Stück weiter abwärts sein musste; hier waren die Hausnummern noch dreistellig. Wie in einem Industriegebiet nicht ungewöhnlich, waren oft überhaupt keine Nummern an den Fassaden, sondern nur der Name, ich suchte also mit meinen Augen irgendwo die drei Buchstaben ACI. Als ich an einem Gebäude mit der Nummer 17 vorbeifuhr, entdeckte ich ein marodes Gartentor, hinter dem ein mit üppiger Vegetation verwildertes Grundstück lag, an dem ein verwittertes kleines Blechschild mit der Nummer 15 hing. Die Straße schien hier zu enden. Von einer Firma oder Fabrik mit Namen ACI weit und breit nichts zu sehen. Bei genauerem Hinschauen entdeckte ich aber noch ein kleines b hinter der 15 und dass die Straße hinter einem Knick durch eine Bahnunterführung weiterging, zur 15a musste ich wohl noch ein kleines Stückchen weiter. Da der Tunnel ein Rundbogen und recht schmal war, ließ ich erst den Gegenverkehr passieren, rollte dann in die Mitte der Straße und durch und – rumpel, schepper, bums – ich dachte, mir riss es das Dach weg. Zum Glück blieb ich aber nicht stecken, konnte den Tunnel verlassen und fand nach vielleicht hundert Metern auch eine Haltestelle. Als ich ausstieg, stellte ich erleichtert fest, dass am Blech der Fahrerkabine überhaupt nichts war, sondern lediglich die Plane des Aufliegers an der linken vorderen Ecke etwas aufgerissen war. Ich lief noch ein Stück zurück, konnte aber auch am Tunnel keine Beschädigung entdecken, ich schien ihn nur etwas an der Decke gekratzt zu haben. Ich wunderte mich nur, dass ich kein Schild mit Höhenangabe entdecken konnte. Bisher ging ich mit meinem Fahrschulwissen davon aus, dass alle Tunnel mit weniger als 4 Meter Durchfahrthöhe gekenn zeichnet sein müssten, da die Fahrzeughöhe maximal 4 m betragen darf. Sollte meiner etwa zu hoch sein? Ohne Zollstock konnte ich das allerdings jetzt nicht prüfen. Na gut, aber es blieb keine Zeit, mich länger damit zu befassen, mein Boss wäre bestimmt froh, wenn ich noch vormittags abladen würde. Nur ein paar Meter weiter kam ich auch schon an ein rechts liegendes Fabrikportal mit einem Schild ACI. Ich fuhr ein kleines Stück die Einfahrt hoch und blieb vor der Schranke stehen, griff nach meinen CMR-Lieferscheinen und ging ins Empfangs - häuschen. Die zwei Mädels und der Pförtner meinten, hier wäre nur für Pkw, zur Lkw-Einfahrt müsste ich einmal um die Fabrik herum auf die andere Seite fahren. Beim Wenden in der Pkw- Einfahrt sah ich jetzt auch das Lkw-Verbotsschild. Also wieder rechts rum raus auf die Straße und nach einem Halbkreis ums Gelände kam ich auf den Lkw-Warteplatz. Ich stieg wieder aus und lief mit meinen CMRs zur dortigen Rezeption, an der schon eine ziemlich lange Schlange anderer Fahrer stand. Als ich endlich dran war, fragte Mademoiselle freundlich nach meiner Referenznummer, ohne die sie mich nicht aufs Gelände lassen könne. Mist, vergessen, wieder zurück zum Laster und nach meinen schwarzen Notizblock gesucht, konnte ihn aber nicht finden, wie gibt’s das denn? Ich konnte mir nur vorstellen, ihn an der Pkw-Einfahrt liegengelassen zu haben. Also wieder zurück zu Mademoiselle. Als ich wieder an der Reihe war, war sie zwar so freundlich, beim anderen Tor anzurufen, dort nahm aber keiner ab und sie meinte, ich müsste schon selber hingehen, aber außen herum bitte, sie dürfe mich nicht die Abkürzung durchs Gelände nehmen lassen. Ohne Referenz - nummer kommt hier keiner rein, auch nicht zu Fuß. Nach 20 Minuten hatte ich das Fabrikgelände zu Fuß umrundet und der Pförtner von vorhin erkannte mich schon von weitem. Er könne sich aber an kein schwarzes Buch erinnern, drinnen am Empfangstresen war auch keins und die beiden Mädels dort konnten sich auch an keins erinnern. Aber auch sie ließen mich ohne Referenznummer nicht die Abkürzung durchs Gelände nehmen, also nochmal 20 Minuten Fußmarsch zurück Auf dem Rückweg schwante mir dann, dass ich mein Buch nur an der Tankstelle (die vor Le Mans) vergessen haben konnte. Der Weg zurück hätte allerdings wieder unter der Brücke von vorhin durchgeführt, so’n Mist. Um einen anderen Rückweg zu suchen, hätte ich jetzt doch den Stadtplan gut brauchen können. Gut, für die Referenznummer reichte auch ein Anruf bei meinem Boss, den ich eigentlich vermeiden wollte; meine anderen Notizen waren mit dem Buch wohl für immer verlorengegangen. Also rief ich doch bei Don Pepito an, gestehend, dass ich die Referenznummer nicht finden könne, ob er sie mir nochmal durchgeben könnte. Mit der Nummer und den CMRs ging ich wieder an die Rezeption, an der jetzt auch keine Schlange mehr anstand. Ich konnte sofort einfahren und die Rampe CC2 suchen. Als ich mich auf dem Gelände bis zur Rampe durchgefragt hatte, stand ich da jetzt vor CC2 mit drei Rolltoren. Das mittlere war besetzt, rechts und links war frei. Ich wollte eigentlich erst warten, bis die Mitte wieder freigeworden wäre, weil mir dezent der Schweiß kam, mich hier schräg rückwärts, an der gegenüberlie- genden Gebäudeecke vorbei, neben die Anderen quetschen zu müssen. Da kam aber einer, der meinte, hier könne ich nicht bleiben und ich solle ans Tor fahren. Ich war grade dabei, mich langsam an eine Anfahrtsposition anzunähern, da überholte mich ein weiterer Anlieferer und quetschte sich in null Komma nix rück wärts vor mir an die Rampe. Na gut, dann nehm ich halt die andere Seite, obwohl die, wie es schien, noch schwieriger anzufahren war. Schon kam aber auch schon wieder einer an und meinte, nein, andere Seite. Dort war jetzt aber schon besetzt und so kreuz und quer konnte ich wohl überhaupt nicht stehenbleiben, es käme ja kein Auto und kein Gabelstapler mehr an mir vorbei. Also im Vorwärtsgang noch mal um die Halle außen rum und erneut in Warteposition. In der Zwischenzeit war die Mitte wieder freigeworden. Aber da jetzt rechts der Drängler stand, hab ich nun auch für eine senkrechte Rampenposition in der Mitte ne ganze Weile kurbelt und schwitzen müssen ... Einen nach mir gekommenen, jetzt wartenden Fahrer hab ich während meines Manövers gefragt, warum meine Zugmaschine beim Anfahren immer so hüpfen würde, aber dieser hat nur auf blöd gegrinst und getan, als ob er mich nicht verstehen würde. Irgendwann stand ich dann doch und der Gabelstapler begann mit dem Abladen. Ich hab gedacht, das hört ja gar nicht mehr auf, so oft ist der in meinen Hänger rein und wieder raus gefahren. Mittlerweile waren alle drei Rampen besetzt und ich versuchte noch mal mein Glück, mich mit den beiden anderen Fahrern über mein Hüpfproblem auseinanderzusetzen. Waren und blieben aber zwei stur auf ihrem Französisch beharrende Klößköppe, die mir allerdings mit Händen und Füßen so was wie Spiel mit Gas und Kupplung andeuteten. Irgendwann war dann auch mein Hänger leer. Jetzt hieß es Rastplatz suchen, hatte schon über 10 Stunden Fahrzeit hinter mir. Also, erst einmal einen anderen Weg zurück zur Tankstelle suchen, wo ich vermutlich mein Buch liegengelassen hatte. Kaum zu glauben, aber ich hatte doch tatsächlich ohne Stadtplan und nur mit Hilfe meiner Frankreichkarte einen Weg gefunden, die Brücke zu vermeiden; also dann: nächste Abzweigung in diese Richtung, von da komm ich bestimmt auch irgendwie quer wieder zurück zur Straße nach Tours. Den Querweg nach Mulsanne gab es sogar wirklich, allerdings war der nur frei bis 7,5t. Mist. Was jetzt? Ein paar Kilometer weiter merkte ich, dass ich mich wie durch ein Wunder wieder genau auf der Straße befand, auf der ich heut morgen nach Le Mans reingefahren war. Jetzt war es auch nicht mehr weit bis zur Tankstelle. Die schon etwas ältere Pächterin hat sich sichtlich mit mir gefreut, als ich freudestrahlend mein Notizbuch wieder in den Händen hielt, obwohl ich ihr morgens keinen Stadtplan abgekauft hatte. Und gleich weiter in Richtung Tours; mit einem Zwischenstop in einer Parkbucht auf einem durch Wald führenden Straßenabschnitt, um hier eventuell meine Standzeit abzusitzen. Aber hier rauschte dermaßen der Verkehr, da war an Augen schließen nicht zu denken. So fuhr ich doch noch ein paar Kilometer weiter bis zur Fernfahrer-Rast in Luceau, obwohl mein Zeitlimit bereits überschritten war. In der Tankstelle neben dem Rastplatz fragte ich nach einem Karten - telefon. Die Kassiererin meinte, dass ich vielleicht auf der anderen Seite von Château sur Loir ein solches finden würde. Die Loir ohne „e“ ist ein Flüsschen, welches zuerst in die Sarthe und mit deren Wasser zusammen schließlich in die Loire mit „e“ mündet. Soweit wollte ich allerdings nicht laufen. Fahren ging aber auch nicht, der Truck hatte erstmal Pause. Also lief ich dann doch ein Stückchen nach Luceau. Schnuckelige Straße runter in ein schnuckeliges Nest mit einer schnuckeligen Kirche mit schnuckeligem Glocken - geläut, mit einem schnuckeligen Hotel und – ohooo – auch mit einer schnuckeligen kleinen Telefonzelle. Zuerst bei Miriam anrufen (mannomann war die Zelle durch die Sonne gut geheizt) und von meinen neuesten Abenteuern im fernen Drachentöterland berichtet. Danach wollte ich noch bei Aurelia anrufen um ihr zu sagen, dass ich jetzt nicht weit von Paris wäre, aber die Nummer ging komischerweise nicht. Auch gut, dann muss ich’s halt lassen. Hab noch ne Runde gedreht, wollte sehen wie es hinter der Kirche bergab so weitergeht. Auf der andern Seite vom Hauptplatz war die Straße aufgerissen. Weiter kam aber nicht mehr viel: ein Opa, der seinen steinernen Gartenzaun gepinselt hat, ein paar Gemüsegärten, eine Mutter mit Kind und schon war meine Runde fertig. Ich kam jetzt von der anderen Seite an die aufgerissene Straße. Da es keinen anderen Weg zur Kirche gab, ging ich seitlich des gebaggerten Abflussrohrgrabens das Sträßchen hinauf, die Bauarbeiter grüßten freundlich. Als ich wieder oben am Lkw-Parkplatz ankam, stand zu meiner Linken ein Lastzug mit britischer Nummer und Lenker rechts. Wir kurbelten die Fenster runter und unterhielten uns aus den Fenstern heraus. Es waren zwei Schotten und ich berichtete von meiner Begegnung mit der Brücke. Als ich ausstieg, um zu zeigen, dass aber so gut wie nichts passiert war, sah ich, dass die Plane vom Fahrtwind während der kurzen Strecke (ca. 40 km) doch etwas weiter aufgerissen war. Der große Dicke von den Beiden stieg aus und meinte, dass es besser wäre, einen Zurrgurt vorne drüber zu werfen und die Plane damit festzumachen. Gesagt, getan und als er schon zurren wollte, wollte ich erst noch die Verdrehungen des Gurtes wieder rausdrehen, das Band also schön glatt ziehen, er meinte aber, ich solle es so lassen. Später würde ich schon noch sehen, wozu das gut war, sagte er noch. Ich sagte artig „thank you“ und meinte, ich müsste jetzt schlafen, obwohl ich gar nicht müde war, aber ich schätzte, dass ich heute nacht um zwölf oder eins weitermusste, sobald ich neue Anweisungen für Ladestellen bekommen würde. Der Schotte meinte, ich solle mal ein Bier trinken, dann wird’s schon klappen mit dem Schlafen. Gute Idee, stimmte ich zu und ging in die Kneipe. Als ich wieder rauskam, waren die Beiden weg, hatten wohl nur ihre 45 Minuten abgesessen. Ich legte mich hin und schlief mal mehr mal weniger bis acht oder neun, als mich der Hunger weckte. Da ich nichts zum Essen dabei hatte, aber zum Glück in Oiartzun Geld ziehen konnte, ging ich wieder in die Kneipe, wo gerade die „Büffet für 10,30 Euro Stunden“ begannen. Ich wurde an den ersten schon mit französischen Fahrern (Routiers) besetzten langen Tisch platziert und durfte mich erstmal am Vorspeisenbüffet selbst bedienen. Verschiedene Fischund Gemüsesalate, merkwürdige Schnecken und Gambas mit Eiern dran. Als ich alles probiert hatte, gab’s Schweinerollbraten mit Kartoffelbrei, leider etwas trocken und fad. Dazu ‘ne Flasche Cidre und Wasser. Nach dem Essen hieß es allerdings für mich endgültig: jetzt aber nichts wie ab in die Koje! Bevor ich einschlief musste ich an ein Gedicht von Erich Kästner denken: „Ein Kubikkilometer genügt!“ In diesem Gedicht hat er ausgerechnet, dass man alle Menschen in eine Kiste packen könnte, die einen Kilometer hoch, lang und breit wäre = ein Kubikkilometer. Das waren damals noch zwei Milliarden Menschen, also für jeden ein halber Kubikmeter. Wenn man etwas enger zusammenrücken würde, also mit etwas Gewalt, könnte man die in näherer Zukunft erwarteten acht Milliarden wohl auch hineinstopfen. Aber wir wollen mal nicht so sein, lassen wir jedem einen Kubikmeter, dann würde wir alle in eine Kiste passen, die zwei Kilometer hoch, lang und breit wäre, also acht Kubikkilometer groß. Da könnten wir dann irgendwo in der Pampa stehen und auf dem Rest des Planeten wäre wieder Ruhe und Frieden. Irgendwo zwischen Mannheim und Frankfurt ans Rheinufer gestellt, würde man diese Kiste aus dem Fenster eines Shuttles kaum zur Kenntnis nehmen, so winzig wäre sie. Auch alle Autos, die jemals gebaut wurden, könnte man in so eine Kiste packen. Ich nehme ja an, dass bis heute deutlich weniger als acht Milliar - den Autos gebaut wurden. Zusammengequetscht braucht jedes bestimmt auch keinen ganzen Kubikmeter, also würden die auch locker in eine Kiste mit 2 x 2 x 2 Kilometern passen. Kaum zu glauben, dass sämtliche Blechlawinen der Welt in so eine winzige Kiste passen würden ... Und wie groß sind die riesigen Löcher im Erdkäse, in dem das Öl früher mal war, das bis jetzt verbrannt wurde? Erstmal nur das, was von den Autos verbrannt wurde: Stark aufgerundet 8 Milliarden Autos mit jeweils 200.000 Kilometern Laufleistung bei 20 Liter auf 100 Kilometer, also wirklich stark übertrieben, real wahrscheinlich weniger als die Hälfte. Aber außer Autos gibt es ja auch noch Flugzeuge, Schiffe und zahlreiche anderen durstigen Vehikel. Also angenommen, die geschätzten Zahlen kämen einigermaßen hin, dann wären das pro Auto vier Kubikmeter Sprit, das multipliziert mit 8 Milliarden, wären 32 Milliarden Kubikmeter, also 32 Kubikkilometer. In eine Kiste von 2 x 4 x 4 Kilometern würde das alles reinpassen. Scheint verdammt viel zu sein, aber aus dem Fenster eines Shuttles wäre auch diese Kiste verschwindend winzig. Und das Öl soll wirklich bald alle sein? Viel mehr als dieses Kästchen soll von den versunkenen Vegetationen der letzten Jahrmillionen nicht übrig sein? Diese Frage sollte mir aber den Schlaf nicht rauben und bald schnarchte ich wie ein Murmeltier.


Freitag, 23.09.2005 - Mit dem DAF in der Bretagne

Als ich so gegen sechs aufwachte, dachte ich: „Na sowas, schon so spät und kein Anruf ..? Dann werd’ ich auch nicht gleich anrufen!“ – Und bin erstmal frühstücken gegangen; waren längst nicht so viele im Saal wie gestern Abend, die meisten waren schon wieder unterwegs. Als das Telefon nach zwei Kaffee und zwei Croissants immer noch nicht klingelte, nahm ich sogar noch eine Dusche und setzte mich danach startbereit in meinen Lkw. Bevor ich gegen halb acht dann doch im Büro anrief, notierte ich noch ein paar mir noch unbekannte spanische Vokabeln aus dem Hörbuchtext meines Krimis in ein Notizbuch, um sie, wenn ich mal wieder zuhause bin, in meinem 5 kg-Wörterbuch nachzuschlagen. Im Büro war man ziemlich erfreut, zu hören, dass ich startklar war und sie schickten mir postwendend eine SMS mit zwei Ladeadressen: eine in St.Nazaire und eine andere in Nantes, beides nordwestlich von meinem momentanen Standort. Ich musste also erst wieder 40 Kilometer zurück nach Le Mans und nicht weiter zurück Richtung spanische Heimat, wie ich zuerst gedacht und gehofft hatte. Die 80 km Umweg wird man mir wohl auch vom Lohn abziehen bzw. gar nicht erst anrechnen. Bei 8 Peseten oder ca. 5 Cent pro Kilometer waren das vier Euro. Kilometergeld neben dem Monatsfixum von netto 750 Euro gibt’s aber nur für die vom Computer berechnete kürzeste Strecke, bei manchen reicht so ein Umweg auch schon als Kündigungsgrund – wegen Dieselverschwendung. Bevor ich wieder losfuhr, hatte ich mit einem gefundenen Zollstock doch mal nachgemessen, wie hoch mein Auflieger eigentlich ist, es werden bestimmt noch mehr Brücken auf meinem Weg liegen. Über 4,35 Meter. Ich war doch ziemlich überrascht. Hätte mir ja auch mal einer sagen können, oder?! Bisher hatte ich gedacht, dass mehr als 4,00 m gar nicht erlaubt wären? Aber ich wollte deswegen jetzt auch nicht im Büro anrufen; und zog es auch vor, die gerammte Brücke erstmal nicht zu erwähnen. Auf meinen weiteren Wegen sah ich im direkten Schulter - höhenvergleich mit anderen, dass 4,35 m vor allem bei spanischen Kollegen eine durchaus übliche Durchschnittshöhe ist. Auf dem Weg nach Le Mans wurde ich von einer französischen Polizeitruppe aus einem Kreisel hinaus und auf einen Parkplatz gewunken. Sie wollten weder meinen Führerschein, noch meine Fahrten - schreiberscheiben sehen, sie interessierten sich nur für meine Frachtpapiere und die Ladung. Da ich aber keine Ladung hatte, hatte ich natürlich auch keine Frachtpapiere; also sollte ich mal hinten aufmachen, damit sie einen Blick reinwerfen könnten. Tatsächlich gähnende Leere und auch der hineingestiegene Beamte konnte nirgends einen doppelten Boden entdecken. Ihre Überraschung und Enttäuschung kam wohl auch daher, dass an dieser Stelle normalerweise aus Süden kommende Lastzüge mit spanischem Kennzeichen ihre Fracht noch drauf haben und Fahrer auf „Spazierfahrten“ eher die Ausnahme sind. Vertrauenswürdig erschien ich aber wohl auch nur deswegen, weil ich im Gegensatz zu den meisten ausländischen Fahrern, versuchte, so gut wie möglich französisch mit ihnen zu sprechen, wofür man mir wohlmeinende Komplimente machte. Aber irgendwie machte ich wohl doch schon fast wieder einen verdächtig harmlos wirkenden Eindruck. Jedenfalls nahmen sie doch erst noch meine komplette Fahrerkabine auseinander, bevor sie einsehen mussten, dass ich wirklich kein Zigaretten - schmuggler war, was bei dem aktuellen Preisunterschied zwischen Spanien und Frankreich für einige meiner Kollegen ein lukratives Nebengeschäft zu sein scheint. Als der Suchbeamte meine unter dem Bett stehende Plastikbox durchwühlen wollte, sorgte ich nochmal für kurze Aufregung, als mich mehrere Beamte davon abhalten mussten, ins Fahrerhaus zu springen. Dabei wollte ich den „Suchbeamten“ doch nur bitten, meine Pinkelflasche nicht umzuwerfen, von der ich nicht sicher war, ob sie fest verschlossen war. Als er sie mit französischen Worten für „nichts passiert“ wie eine Trophäe aus der Tür reckte, war ich sichtlich erleichtert und seine Kollegen ziemlich erheitert. Sie ließen mich dann weiterfahren; durchquerte Le Mans und fuhr dahinter auf die A11 Richtung Angers, Nantes. Als ich durch Angers fuhr, musste ich bei einigen Brücken, die mit 4,20 m markiert waren, in einem fast provokanten Schritttempo ziemlich die Luft anhalten. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich hier nicht durchgepasst hätte: Rückwärtsgang einlegen oder drehen schien hier ziemlich ausgeschlossen. Vielleicht mit dem Hubschrauber nach oben von der Straße ziehen? Aber trotz meiner 4,35 m blieb ich nicht hängen, ob ein Meter vielleicht nicht überall aus 100 Zentimetern besteht? Hinter Nantes, woran ich vorbeifuhr, weil ich zuerst in St.Nazaire aufladen sollte, wechselte ich auf eine autobahnähn - liche Landstraße. Kurz vor dem ersten Ziel des Tages rief ich Miriam an, um zu berichten und meinte noch zu meinem kleinen Dachschaden auf dem Hänger, dass es nicht weiter schlimm wäre, solange es nicht regnete. Kurz vor St.Nazaire fragte ich in einer Kneipe am Straßenrand nach dem Weg, der zum Glück sehr leicht zu beschreiben und zu finden war. In St.Nazaire regnete es. Den Arbeitern, die auf der Rampe meiner Ladestelle auf mich warteten, erklärte ich, dass das meine erste Tour wäre, sie müssten noch etwas Geduld mit meinen Rück wärtsfahrkünsten haben. Den Staplerfahrer, der meine Ladung zu bewegen hatte, fragte ich, ob die Ladung wasserempfindlich sei; und erwähnte kurz die Brückenkollision, die ein Loch in der Plane hinterlassen hatte, in der bei Regen Wasser eintreten könnte. Das wäre nicht so gut, meinte er, worauf ich fragte, ob sie denn Klebeband oder so zum Zumachen hätten? Er gab mir eine Rolle Tesa-Pack und eine Rolle Plastikfolie. Fehle nur noch eine Leiter, weil – über 4 Meter erreiche ich nicht aus dem Stand ... Ich nutzte eine Nieselregenpause zum Hochsteigen, lockerte erst noch den Zurrgurt, der über den Riss gespannt war und schob ihn etwas nach hinten, klebte schön einen Klebestreifen neben den anderen, bis der Riss geschlossen war und zurrte den Gurt wieder fest. Vorher hatte ich aber die Verdrehungen des Schotten herausgewunden, so dass das Band nun schön glatt an der Plane anlag. Nachdem die Ladung geladen und die Türen wieder verschlossen waren, machte ich mich auf den Weg nach Nantes- Carquefou. Ich musste nicht lange suchen, die Ausfahrt hatte ich schon auf dem Herweg passiert. Schon nach wenigen Kilometern war ich so genervt von dem Flattergeräusch des Zurrgurtes im Fahrtwind, dass mir klar wurde, warum der Schotte gemeint hatte, dass ich die Ver - drehungen drinlassen sollte. Bei der nächsten Gelegenheit hielt ich an, öffnete den Gurt, um ihn wieder zu verdrehen und hatte von da an meine Ruhe. Abfahrt Nantes-Carquefou fuhr ich raus, durch einen Kreisel, in dem es nur eine Ausschilderung gab: Z.I. Chateaubriant (Zone Industrielle). Also nochmal zurück; unter der Autobahn durch, aber auch in diesem Kreisel kein Hinweis. Wieder zurück und ein Stück in Richtung Z.I.Chateaubriant gefahren, am Rand geparkt und in einem Immobilienbüro nach dem Weg gefragt. Der ortsfremde Azubi fand dann auch in einem Internet-Stadt - plan die gesuchte Straße. Problem war nur: Im Übersichtsmaßstab war die Straße nicht mehr zu sehen und im kleinen Ausschnitt, in der der Straßennamen zu lesen ist, fehlt die Umgebung und die Beschreibung wie man hinkommt. Zum Glück kam der ortskundige Chef des Büros hinzu und erklärte: „Einfach weiter geradeaus und dann den Schildern folgen.“ Als ich gerade ins Gelände von Trelleborg eingefahren war, kam ein Anruf von Mariposas: „Nein, nicht zu Trelleborg- Trelleborg, bitte zu MGL-Trelleborg ...“ Das wäre aber nur 200 Meter die Straße zurück auf der gegenüberliegenden Seite. Na gut, wenn’s weiter nichts ist. Als ich drüben ankam und sie mir sagten, ich sollte an Rampe 8 anfahren, sagte ich diesmal gleich vorab, dass sie sich nicht wundern sollen, wenn’s ein biss - chen dauert, ich wäre neu in der Branche. Ich hab nicht auf die Uhr geschaut, aber ich hab ‘ne ganze Weile rumgeeiert, bis ich endlich mit offenen Hecktüren fast gerade an der Rampe stand. Als ich dann wieder im Büro war, hat auch keiner was gesagt, nur gefragt, ob ich schon fertig wäre. Irgendwann war meine Kiste dann wieder voll und ich hab mich wieder auf die Socken gemacht, bis Saintes könnt ich heut noch kommen.


Samstag, 24.09.2005 - Endlich wieder in Spanien

Ich weiß nicht mehr, wann ich auf dem Autobahnrastplatz zwischen Niort und Saintes angekommen bin. Irgendwann mitten in der Nacht hab ich’s mir dort gemütlich gemacht und noch ein wenig in meinem Buch gelesen. Bei Gott weiß wievielen Kilometern am Tag, bei maximal 90 km/h, ist man der Lichtgeschwindigkeit zwar nur ein kleines Stück näher als den ganzen Tag im Stuhl sitzend, aber schon bei diesem gemäßigtem Tempo über längere Zeit, fragt sich mein armes Seelchen noch häufiger als sonst, wer ich bin und wohin ich fahre. In diesem Buch las ich, Wissenschaftler behaupten ja, es gäbe nichts Schnelleres als das Licht. Aber wenn man sich nun vorstellt, dass in jedem Teil der Welt die ganze Welt enthalten ist, dann hieße das, dass ja auch in jedem Glas Bier die ganze Welt enthalten ist, egal ob voll oder leer. In jedem Tropfen des Bieres ist die ganze Welt, sowie in dem Glas, sowie in dem darunter liegenden Bierdeckel, dem Tisch darunter, der Luft und dem Gebäude darüber, überall, in jedem Atom und jedem Teilchen davon. Die ganze Welt ... interessant ... Das hieße auch, ich und du, und jeder, und alles, in jedem Fitzelchen jedes Atoms. Atome sind ja wie Sonnen, um die die Elektronen wie Planeten kreisen. Und auf jedem dieser Elektronenplaneten gibt es auch wieder etwas, entweder rot und tot wie der Mars oder grün und lebendig wie unsere Erde oder wie sonst eben. Mit allem Drum und Dran und was so dazugehört. Von der Dosenmilch bis zu Eisbär und Elefant, von Nofretete bis Napoleon und jedes Lieschen Müller in jeder erdenklichen Hautfarbe. Von der Steinzeit bis in alle Zukunft. Und die alle bestehen ja auch wieder aus Molekülen und Atomen, in denen sich dies alles 100mal, 1000mal oder noch öfter wiederholt. Da hier kein Ende vorstellbar ist, muss es sich ja immer kleiner werdend, unendlich immer wieder wiederholen; in die andere Richtung ja genauso. Oder kann jemand sagen, wo das Ende der Welt, des Universums sein soll? Wenn es ein Ende gäbe, was wäre dahinter? Es muss ja immer weitergehen, weil es nirgends aufhören kann. Und wenn wir nun also auf einem Elektron um unsere Sonne kreisen, das zum Beispiel zu einem Molekül gehört, welches sich zum Beispiel im Herzen eines Zebras befände, und dieses Zebra im Laufschritt durch die Pampa galoppiert, dann wird doch unser ganzes Sonnensystem in einem Tempo dahingetragen, neben dem sich unsere kleinkarierte Lichtgeschwindigkeit – relativ gesehen – nicht schneller als der Furz einer Laus ausnimmt. Und: Nicht nur in einem Atom dieses Zebras fänden wir uns wieder, sondern in allen und in jedem Atom jedes Grashalms, den seine Hufe zerquetschen. Und auch dieses Zebra rennt nur auf einem Atom seines Sonnensystems herum, welches nur ein klitzekleines Teilchen des nächstgrößeren sein kann. Ist das wirklich möglich? Oder kann jemand beweisen, dass es unmöglich ist? Bevor ich vollends durchdrehe, beschränke ich mich lieber auf meine Aufgabe, jede mir angetragene Fracht mit max. 90 km/h von A nach B zu bringen und ein Glas Bier, das vor mir steht, einfach auszutrinken, ohne mich zu fragen, welche Universen ich hier runterschlucke, um sie später in einem Gebüsch oder einer Autobahntoilette ihrem weiteren Schicksal zu überlassen. Gott wird schon wissen, was er sich hierbei gedacht hat, nicht mein Problem. Hab ich Gott gesagt? Dass ist auch so einer, der einem den Schlaf rauben kann. Jetzt aber lieber endlich mal die Augen zumachen. Ich hab dann auch ziemlich gut geschlafen und bin später ohne erinnernswerte Zwischenfälle nach Hause gefahren: Vorbei an Bordeaux, Biarritz, San Sebastián; in San Roman noch mal paar hundert Liter Diesel getankt und war gegen 18:30 Uhr wieder in Valladolid. Habe den Truck an der Rampe abgestellt, von der ich am Dienstag losgefahren bin, hab mich in meinen L 300 gesetzt und eine Viertelstunde später war ich zuhause. Zuhause? Könnte man meinen. Aber ich kam dort nicht wirklich an, mein Geist schwirrte immer noch ruhelos über die französischen Autobahnen. Die Gewissheit, dass ich Montagmorgen, also in wenigen Stunden schon wieder dorthin aufbrechen werde, ließ mich nicht wirklich zuhause ankommen. Ich fühlte mich so ähnlich wie ein Geist, der nach dem Tod seiner Verpackung noch mal aus dem Jenseits bei seinen Hinterbliebenen nach dem Rechten schauen will, aber nicht mehr ins Diesseits durchdringen kann. Alles was ich in meiner „Freizeit“ erledigen wollte, schien unerreichbar weit weg, ich war zuhause, scheinbar greifbar Nahes war nicht zu fassen, sogar Miriam und Álvaro fühlten sich an wie hinhalluzinierte Fata Morganen. An Erledigungen von meiner „Wichtig-Liste“ war in den wenigen Stunden schon gar nicht zu denken, ich wusste vor Hektik nicht, ob ich zuerst essen, duschen oder aufs Klo gehen sollte. Auch dass später noch Schwager und Schwägerin vorbeikamen, um zu sehen, wie mir die Woche bekommen war, hab ich kaum mitbekommen, ich war zwar einfach hundemüde, aber trotz dem zu aufgedreht, um einfach schlafen zu können.


Sonntag, 25.09.2005 - Zuhause

Als ich am Vormittag aus dem Fenster der 6. Etage auf die Wartungshallen spanischer Eisenbahnzüge schaute, fragte ich mich, wo ich jetzt wäre, wenn es im März 2001 nicht so geregnet hätte. Ich wäre wohl nicht vor dem deutschen Wetter nach Mallorca geflohen, wäre wohl nicht nach einer ersten Nacht auf dem Fahrersitz eines Mietwagens in den Bergen in diesem Hotel am Ballermann gelandet. Aber im März, wenn’s auch auf den Balearen noch kühl ist, die anderen Hotels entweder noch geschlossen oder viel zu teuer sind, kann man dort sehr gut und günstig übernachten. Am ersten Frühlingsmorgen des neuen Jahrtausends lief mir dann dieser kastilische Engel über den Weg, besser gesagt, sie saß mit ihrer Kollegin im gleichen Frühstückssaal wie ich, in dem, außer uns dreien, niemand war. Mein spanischer Wortschatz bestand damals nur aus den sieben Wochentagen und den Begriffen „si“, „no“, „buenos dias“ und „adiós“. Trotzdem setzte ich mich zu den Beiden an den Tisch, verstand allerdings nicht viel; weder, dass die Reise der Beiden der Gewinn einer Weihnachtstombola war, noch, dass „hermano“ kein spanisches Pendant zum deutschen Vornamen Hermann ist, sondern Bruder bedeutet. Auch verstand ich (noch) nicht, dass dieser Bruder (damals noch) Gefängnisaufseher im Knast von Palma war. Ich verstand nur die Namen der beiden: Miriam und Mercedes. Auch der Name der Stadt „Valladolid“, die Herkunft der zwei Engel, sagte mir absolut nichts. Zuhause suchte und fand ich im Atlas kein „Bajadolid“ und dachte, das müsse aber ein verdammt kleines Nest sein, wenn ich es in keinem Atlas fände. Aber schnell sollte ich lernen, dass in Valladolid nicht nur am 20. Mai 1506 Christoph Columbus gestorben ist, sondern dass hier auch mal mit Karl V, dem am 24.Februar 1500 in Gent/Belgien geborenen Sohn von Philipp dem Schönen und Johanna der Wahnsinnigen, ein deutscher Kaiser zuhause war, der als Carlos I gleichzeitig als der erste König von Spanien galt und gilt. Sein am 21. Mai 1521 – hinter einem heute noch existierenden Erkerfenster in Valladolid – geborener Sohn Philipp II verlegte 1561 den spanischen Herrschaftsmittelpunkt von Valladolid nach Madrid, wofür ihm heute noch viele Vallisoletanos dankbar sind. Ziemlich bewegte europäische Geschichte hatte innerhalb meines gegenwärtigen Blickfeldes stattgefunden, als hier noch keine Hallen standen, in denen spanische Lokomotiven und Waggons repariert wurden. Eisenbahn heißt übrigens auf spanisch ferrocarril. In Spanien würde aber niemand auf die Idee kommen, mit der ferrocarril zu fahren, dort fährt man mit dem tren (Zug) auf der ferrocarril, der Bahn aus Eisen, also den Gleisen. Wenn ich bisher in Deutschland Zug fuhr, behauptete ich meistens auch, MIT statt AUF der Eisenbahn zu fahren, wie viele andere Deutsche wohl auch. Nur die Schwaben fahren „Auf der schwäbschen Eisebahn“. Sind das nicht gerade die, die von sich behaupten, sie könnten alles, außer richtiges Deutsch? Ich wusste da noch nicht, dass ich am kommenden Wochenende mit dem DAF nach Gent fahren würde, wo damals Karl geboren wurde, aber ein viel lebendigeres Beispiel, wie sich manche Wege kreuzen können, passierte mir letztes Jahr an Weihnachten: Ich stand mit meinem Kunsthandwerk auf dem Weihnachtsmarkt in Valladolid. Am dritten Tag meinte ein Standnachbar weiter rechts, ob ich schonmal mit meiner Nachbarin zur Linken gesprochen hätte, sie spräche wohl deutsch. Ich ging hin und unterhielt mich ein bisschen mit ihr, sie sprach wirklich erstaunlich gut deutsch, sie hatte ja auch ein paar Jahre in Deutschland gelebt. Aber dann wurde das Gespräch auch schon wieder unterbrochen, Kundenfragen waren zu beantworten. Am nächsten Tag setzten wir unser Gespräch fort und Maria, die 1957 in Salamanca (ca.100 km von Valladolid) geboren wurde, erzählte, dass sie von 1963 –1973 mit der ganzen Familie in Deutschland gelebt hätte und dort auch 10 Jahre zur Schule gegangen wäre. Seit ihrer Rückkehr nach Spanien wäre sie aber nicht mehr in Deutschland gewesen. Als sie fragte, woher ich denn käme, antwortete ich: „Aus einem kleinen Dorf, südlich von Frankfurt.“ Um es etwas genauer einzugrenzen, erklärte ich, zwischen Darmstadt und Aschaffenburg, aber diese Städte würde sie wohl nicht kennen? Aber sie kannte auch Darmstadt und Aschaffenburg und sogar Dieburg, Altheim und Semd. „Waaas?“, staunte ich, „Hier kennt jemand Semd?! Das gibt’s ja gar nicht.“ Aber natürlich würde sie Semd kennen, da wäre sie doch schließlich großgeworden. Sie war doch tatsächlich in diese Schule gegangen, die direkt hinter dem Garten meiner Eltern anschloss, in dem ich damals mit meinen Geschwistern und Freunden im Sandkasten gebuddelt hatte. Da steht man Jahrzehnte später tagelang nebeneinander und wenn nicht einer gekommen wäre, dem nur aufgefallen war, dass hier zwei die gleiche Sprache sprechen, hätten wir vielleicht niemals voneinander erfahren. Wie oft passiert es wohl, dass sich zwei Wege auf ähnliche Weise kreuzen, nur dass es keiner bemerkt? Was wäre wohl geworden, wenn es im März 2001 nicht so geregnet hätte? Aber so wird Álvaro im übernächsten Monat schon ein Jahr alt. Heute schlief er allerdings noch die meiste Zeit des Tages und ich legte mich auch wieder hin, morgen würde ich wohl wieder Richtung Frankreich fahren.


Montag, 26.09.2005 - Über den Ebro

Schön an Spanien und den Spaniern ist auch, dass „normalerweise“ kaum jemand vor 9:00 Uhr zu arbeiten beginnt, also nicht solche „Gold im Mund zur Morgenstund“ suchenden Heide - lerchen wie bei uns in Deutschland. Wenn man dann aber wirklich mal früh wach ist und eine geöffnete Bäckerei oder einen Baumarkt sucht, hat man natürlich Pech gehabt, hier schlafen alle so lange wie in Deutschland nur Künstler, Studenten oder Arbeitslose. Aber: Hier muss sich niemand für seine Gene entschuldigen, hier ist das ganz normal. Ich also um 9:00 Uhr zur Spedition und mit dem DAF samt Auflieger zur Renault-Fabrik, um die Ladung von Trelleborg aus Nantes abzuliefern. Die Fabriken von Renault, Iveco und Michelin sind wohl die drei größten Arbeitgeber in Valladolid (laut Internet „gemeldete“ 320.000 Einwohner), einer ständig wachsenden Stadt in einer Senke am Pisuerga, mitten in der altkastilischen Hochebene. Den Pisuerga wird kaum jemand kennen, aber vom Duero, mit dem sich der Pisuerga wenige Kilometer nach Verlassen der Stadt vereint, haben vielleicht nicht nur Weinkenner schonmal gehört. Ich stand also gegen 10:00 Uhr am Tor von Renault und wollte rein, aber die haben mich erstmal auf den Parkplatz geschickt. Nach etwas mehr als „nur“ einer Stunde hatte der Pförtner mit Hilfe der Frachtpapiere und eines Telefons endlich herausgefunden, dass ich zu früh bin. Meine Ladung wurde um Punkt 16:00 Uhr erwartet und keinen Tick früher oder später. Folglich hab ich mit Don Pepito telefoniert, dem nur ein ganz leises unleidliches Schnaufen anzumerken war. Er meinte, ich solle zurückkommen, den Hänger abstellen und zur Werkstatt fahren, um den Retarder reparieren zu lassen. Na so was, hatte er nicht vor wenigen Tagen noch geschworen, der wäre in Ordnung??? Ich freu mich und mach mich auf den Weg; war dann auch stolz wie Oskar, den Auflieger ohne weitere Erklärung oder Hilfe - stellung völlig eigenhändig im Hof abzuhängen – meine Premiere! Machte mich dann – nur mit Zugmaschine – auf den Weg zur Werkstatt zwischen Boecillo und Montemajor an der Carretera Segovia, auf halbem Weg nach Camporredondo, wo meine Schwiegereltern zuhause sind. Da ich in der Werkstatt warten musste, bevor ich drankam, hatte ich sogar Zeit für ein lecker Mittagessen aus Schwieger - mamas Küche. Die Zahl der Zutaten ihrer Gerichte ist sehr überschaubar wie auch die Zahl der verschiedenen Gerichte selbst, aber immer wieder ein glücklich machender Genuss. Hier wird nicht experimentiert, die Rezepte haben sich seit Generationen wohl kaum verändert. Bedauerlich konservativ, mag man meinen, aber dafür halt auch sehr stabil und konstant. Wie die Pinienwälder rings herum (anspruchslos wie Kamele) die weder im Winter erfrieren, noch im Sommer vertrocknen. Wenn ein Kastilier seinen Fuß mal irgendwo hingestellt hat, wo er einigermaßen bequem steht, wird er (oder sie) seinen Fuß dort nicht mehr wegbewegen, bevor man ihn (oder sie) erschießt. Auch wenn um die Ecke das Paradies warten würde. Neues zu denken oder gar zu tun gilt bei der Mehrheit als dumm bis bescheuert oder krank im Kopf. Beim „Alle-über-einen-Kamm-scheren“ darf man natürlich die Ausnahmen nicht vergessen; es gibt in Kastilien auch eine große Zahl an Unikaten, mein Schwiegervater ist so einer, seinen Namen Marciano (zu deutsch: Marsmensch) findet nicht nur seine Frau sehr passend. Ein erfindungsreicher Geist, ein Neudenker und -macher auf vielen Gebieten, z.B. im Gebäude- und Maschinenbau, in der Landwirtschaft und im Weinbau, seine Gemälde zieren die Wände der zahlreichen Verwandschaftszugehörigen, er ist ein Experte in der heimischen Tier- und Pflanzenwelt, am Sternen - himmel und auf zahlreichen anderen Gebieten. Er hat leider überhaupt kein gutes Händchen für Ökonomie, was ihn zwar für die meisten sehr sympathisch macht, aber immer wieder zu erbitterten Meinungsverschiedenheiten mit seiner Gattin führt. Nicht nur seine landwirtschaftliche Produktion subventioniert er mit seiner spärlichen Rente, obwohl stillgelegte Ackerflächen höher aus der EU-Kasse belohnt werden würden; auch all seine anderen Projekte finanziert er aus eigener Kasse. Die Finanzierung eines Brunnens zur Bewässerung seines Pinienwäldchens (kaum 2 – 3 Meter hohe Jungpinien), damit seine selbst gebaute Windmühle (Don Quijote lässt grüssen) zum Einsatz kommen kann, hätte in „modernen“ Gesellschaftskreisen unweigerlich zur Scheidung geführt; aber hier kommt wieder das kastilische Gen zur Geltung, dass trotz allem was passiert, alles so bleibt wie es ist. Marciano flüchtet sich vor dicker Luft zuhause entweder in seinen Erfinder-, Denker-, Konstruktions-, usw. Schuppen, auf eine seiner Ackerflächen oder ins Kartenspiel mit Freunden in eine seiner Stammkneipen, wo er ein gern gesehener Gast ist. Das Schlachtfeld der Küche, obwohl auch hier ein großes Talent in ihm schlummert, überlässt er, großzügig wie er ist, seiner Angetrauten. Da, wo ich herkomme, kochen wohl sehr viele so wie ich: Menu surprise, ein Mix aus dem, was da ist oder was man auf dem Markt gerade zufällig entdeckt hat. In Kastilien bin ich damit ein echter Exot, surprise heißt natürlich auch, dass man vorher selten wirklich weiß, wie es hinterher schmeckt. Aber wenn es denn mal schmeckt – ist jetzt doch nicht so selten wie es den Anschein haben mag – bekomme ich neidlose Komplimente von allen Seiten, vor allem für meine Tortenkrea - tionen. Auch wegen meiner Fisch- und Fleischexperimente hat man mir schon geraten, doch ein Restaurant aufzumachen. Riesengroßer Haken hierbei ist nur, dass ich mir meine Rezepte nicht merken kann und niemals zweimal das Gleiche hinkriege; für eine Restaurantküche also absolut unmöglich. Der Kunde bezahlt schließlich dafür, dass er genau das bekommt, was er bestellt hat. Ein Motto wie: „Friss, Vogel oder stirb!“ wäre wohl weniger tödlich für den Gast als für den Gastronomen. Nach dem konstant köstlichen Genuss von Angelines in der Auflaufform gebackenen Hühnchenteilen mit Kartoffeln fahr ich zurück zur Werkstatt und komm auch gleich dran. War eher eine Kleinigkeit zu regulieren, wozu aber schweres elektronisches Gerät nötig war. Als ich wieder bei Pepito ankam, hatte ein Kollege meinen Hänger schon zu Renault gefahren und Carmen begrüßte mich mit den Worten: „Du fährst jetzt nach Baden, ich glaub das ist in Deutschland.“ Baden? Baden-Baden kenn ich, aber Baden?? Hab in meinem Atlasregister nachgeschaut, aber außer einem winzigen Nest bei Bremen kein Baden gefunden. Über Name und Anschrift des Empfängers konnte sie mir auch keine Auskunft geben, nur darüber, dass ich Plastikrohre fahren würde. Um die zu laden, sollte ich zu einer etwas nördlich von Miranda am Ebro gelegenen Fabrik fahren. Ich fragte, ob denn noch jemand da wäre. Denn es war schon nach 17:00 Uhr und für die 200 km würde ich bestimmt zwei, drei Stunden brauchen. Keine Sorge, meinte ein Kollege auf dem Hof, zum Laden wäre dort immer jemand; rund um die Uhr. Also dann: Erst auf die mautfreie A62 (Autovia) bis Burgos und dann, bevor es auf die kostenpflichtige AP 1 (Autopista) geht, runter auf die N I (Carretera nacional). Es ist von Vorteil, wenn man weiß, dass es in Spanien National straßen mit römischer und andere mit arabischer Nummerierung gibt: Wenn man den Weg zur N II sucht, sollte man also nach der Zwei fragen und nicht nach der Elf, die Elf kennt hier niemand. Römisch nummeriert sind die sechs Hauptadern, die von Madrid aus sternförmig ans Meer führen, die N I ins baskische San Sebastián, die II ins katalanische Barcelona, die III ins valencianische Valencia, die IV ins andalusische Cádiz, die V bis ins extremadurische Badajoz an der portugiesischen Grenze, von wo es nicht mehr weit ist nach Lissabon, und zu guter Letzt die VI nach La Coruña in Galizien. Alle anderen Straßen haben arabische Numerierung. Auf der N I schließlich in Miranda am Ebro angekommen, bin ich erst mal mehrfach die Hauptstraße rauf und runter gefahren, bis mir jemand den richtigen Weg zu der von mir gesuchten Fabrik erklärte. Als ich dann endlich auf dem rechten Weg war, hatte ich bis zum Schluss Zweifel, wirklich anzukommen, es kam nämlich ziemlich lange so gut wie nichts, außer Dunkelheit und ab und zu ein entgegenkommendes Auto. Am Geruch, der so ähnlich war wie früher an manchen Tagen um die Resopal-Fabrik in Groß-Umstadt, erkannte ich irgendwann, dass es nicht mehr weit sein konnte. Und tatsächlich: hell erleuchtet wie ein Fußballstadion, lag mein Ziel irgendwann vor mir, besser gesagt, links von mir. Ich musste dennoch ziemlich lange suchen, bis ich jemanden fand, der mir erklärte, dass ich heute natürlich niemanden mehr fände, der mir meine Ladung verpassen würde. Draußen auf dem Parkplatz solle ich mich schlafenlegen und morgen früh um sieben wiederkommen. Da hatte ich aber noch mal Glück gehabt; ich hatte schon gedacht, heute wäre mal wieder Rund-um-die-Uhr-Schicht ...


Dienstag, 27.09.2005 - Hundemüde in La Rochelle

Es hatte die ganze Nacht immer wieder etwas vor sich hingeregnet, aber die Sonne fand im Morgengrauen schnell ein paar Löcher im zerzausten Wolkengetümmel, um den ohnehin schon vorhandenen Nebelschwaden noch etwas mehr Dampf zu machen. Hose an, ein paar Spritzer Wasser in die Augen und auf die Zähne, Haare kämmen, kurz aussteigen zum Pipi machen, wieder einsteigen und los geht’s. Von 7:30 bis 9:00 Uhr wurde ich von vorne bis hinten mit grauen Plastikrohren bis unter die Decke beladen. Währenddessen hatte ich in meinem Michelin-Atlas auch ein anderes Baden gefunden, allerdings nicht bei Bremen, sondern in der Bretagne. Da auch die auf den Rohren entdeckte Postleitzone 56 hierzu passte, dachte ich, mein Ziel gefunden zu haben, aber das stimmte noch nicht so ganz. Als ich schließlich meine Lieferpapiere bekam, stand hier nämlich nichts von Baden, weder in Deutschland, noch in Frankreich. Der Empfänger sollte in Baud sein, was mir doch eher französisch klang. Und tatsächlich gab es ein Baud in Frankreich, und das war nicht nur wie24 Baden in der Bretagne, es lag außerdem noch in der gleichen Postleitzone 56. Na, wenigstens wusste ich jetzt, wohin die Reise ging; und die führte mich zunächst zurück bis Miranda und dann wieder auf die N I an Vitoria vorbei bis zur Mariposas-Basis an der Ausfahrt San Roman. Komisch, dass ich San Roman bei Google-Earth nicht finden kann. Die Basis zwischen Eguilaz und Durruma Donemiliaga finde ich da schon, aber nichts, was San Roman heißt, egal. Bevor ich wieder nach Frankreich fuhr, machte ich erst mal die Dieseltanks bis oben hin voll, parkte den DAF im Gelände und dachte vor dem Verlassen des Geländes diesmal gleich ans Überziehen der Warnweste, was mir von der hübschen rothaarigen Pfortenfrau mit einem Lächeln quittiert wurde. In der Hotelbar, in der ich meinen bulgarischen Kollegen wiedersah, der ebenfalls für Don Pepito fuhr, nahm ich ein französisches Frühstück, also Kaffee mit Croissant, zu mir. Er fragte mich auch dieses Mal, ob ich denn schon mal Geld vom Boss bekommen hätte; wie sollte ich, war ja erst eine Woche dabei. Er klagte, wie lange er schon nichts mehr bekommen hätte ... oder doch immer mal wieder ein bisschen was, wenigstens soviel, um sein schäbiges Zimmer in Zaragoza zu bezahlen, welches zu sehen er bei diesem Job sowieso nie Zeit hätte. Aber da er ohnehin lieber in seiner Kabine „wohnte“ als in dieser Bruchbude, in der außer Kakerlaken niemand auf ihn wartete, hätte er seinen Mietvertrag schon längst gekündigt, wenn man für einen Arbeitsvertrag nicht auch einen Wohnsitz bräuchte. Trotz aller Frustration hatte er aber irgendwo auch Verständnis für unseren Boss, die Strafgelder für Verstöße gegen Fahr vor - schriften in Spanien sind echt gesalzen. Für ihn selbst hatte Pepito erst kürzlich 3500 Euro hinblättern müssen: wegen nicht eingehaltener Stand- und Ruhezeiten. Ein anderer Kollege, der aus Barcelona kommend, sonntags ins Baskenland eingefahren war, hatte unserem Chef gar 7000 Euro gekostet. In fast ganz Spanien dürfen Brummis immer fahren, nur im Baskenland herrscht Sonntagsfahrverbot, wie auch in anderen Teilen Europas. Angeblich sollen manche baskischen Polizisten eine besondere Freude daran haben, einen spanischen Fahrer, der sich an diese Vorschrift nicht halten will, an den Eiern zu packen. Ich weiß nicht, wie viel Straßenmannsgarn oder Wahrheit ich hier zu hören bekomme, aber derselbe Fahrer hatte eine Woche später auf derselben Strecke, an derselben Stelle, an dieselben Beamten noch mal 7000 Euro aus der Firmenkasse verspielt. Es ist zu bezweifeln, dass dieser Kollege jemals wieder Lohn bekommen würde ... Nach dem zweiten Kaffee mit Croissant setzte sich ein älterer Herr zu uns und erzählte, dass ihm dies alles hier gehöre. Außer - dem gehörtem ihm die Hoteltankstellen an den Grenzübergängen nach Frankreich, Irun auf der Atlantikseite und La Jonquera auf der Mittelmeerseite. Na hallo, bei so vielen Fenstern ein potenzieller Großkunde für meine Buntglasfenster. Ich zückte sofort eine Visitenkarte und versuchte ihn von meiner spontanen Blitzidee zu begeistern, was allerdings nicht so richtig gelang, jedenfalls hat er sich bis heute nicht bei mir gemeldet. Ich kaufte dann in der Hotel-Tankstelle noch ein bisschen Dosenfutter für die nächsten Tage und ein winterlich gefüttertes Hemd zum Wechseln, waren hier Ende September doch tatsächlich die Wasserpfützen schon gefroren. Bevor ich losfuhr, machte ich drüben an der Basis-Tankstelle noch mal den Diesel voll bis oben hin, wobei mich der Geländepförtner fragte, wie ich so doof sein könnte für Don Pepito zu fahren. Er würde ihn zwar nicht persönlich kennen, aber nach allem, was er bis jetzt über ihn gehört hätte, wäre das ein unverschämter Schweinehund und Betrüger; auf Bezahlung könnte man bei ihm bis zum Nimmerleinstag warten. Ich fuhr wieder auf die N I auf und über die Berge bis zur Grenze, weiter auf der französischen A 63 bis Bordeaux, dann auf der A 10 bis Saintes. Mir schien der Weg nach Nantes kürzer über La Rochelle, statt um Niort herum. Also fuhr ich über die A 837 bis Rochefort und auf der N 137 bis La Rochelle. Schon ziemlich müde, kurvte ich durch ein zwar beleuchtetes, aber trotzdem schon recht dunkles Viertel auf der Suche nach einem Parkplatz, um die Augen zuzumachen; fuhr noch an einem Schild vorbei, worauf stand, dass auf der weiter führenden N 137 in Richtung A 83 nach Nantes eine Brücke käme, die nur bis 26t zugelassen sei. Ich war aber schon zu müde, um nachzuschauen, was meine Ladung wiegt, um sie mit dem Leergewicht zu addieren und kroch erstmal in meine Koje.


Mittwoch, 28.09.2005 - Schon wieder in der Bretagne

Ich wurde morgens am Straßenrand der an La Rochelle- Beaulieu vorbeiführenden N 11 nicht vom rauschenden Verkehr, sondern vom Telefon geweckt. Der Rottweiler fragte, wo ich denn sei. Ich sagte ihm, ich wäre gerade in La Rochelle, einmal weil’s kürzer sei und zweitens, um Autobahn-Maut zu sparen; würde allerdings bald an eine Brücke kommen, die nur für Fahrzeuge bis 26t zulässig ist; ob er mir sagen könnte, wie hoch das Leergewicht meines Trucks wäre (ich schätzte so um die 15t); die Ladung alleine wiege ungefähr 14t und mit 29t läge ich also etwas darüber. Er sagte erstmal gar nichts und meinte dann, ich hätte keine 26t, keine 29t, ich hätte 40t! Bevor ich hessisches Greenhorn jetzt anfange mit einem (auch noch kastilischen) Profi darüber zu diskutieren, was zulässiges Gesamtgewicht und was tatsächliches Gewicht ist, nahm ich ohne weiter darüber nachzudenken den Umweg über die N 11 nach Niort und von dort auf der A 83 stundenlang scheinbar nur geradeaus in Richtung Nantes und von dort auf der N 165 weiter Richtung Vannes. Hier kommt man bei La Roche-Bernard über eine Brücke mit toller Aussicht auf das Tal des Flusses Vilaine. Ab Vannes fuhr ich weiter auf der D 767 in Richtung Locminé und von dort auf der N 24 bis Baud, wo ich gegen 13:00 Uhr ankam. Ich fuhr durch ein breites Rolltor in den großen Hof eines Röhrenlagers in einer kleinen Zone Industrielle etwas außerhalb von Baud. Keine Menschenseele zu sehen. In einer Halle fand ich dann doch jemanden, den ich offensichtlich bei seinem Mittags-Imbiss störte. Er sagte mir, ich solle schon mal meine Seitenwände öffnen und löffelte in Ruhe sein Schüsselchen leer. Nachdem er den letzten Löffel mit einem Schluck Vin Rouge hinuntergespült hatte, erhob er sich und schlurfte zu einem Gabelstapler. Palette für Palette stapelte er die Rohre nebeneinander in den Hof, während ich einem etwa in hal- ber Reiseflughöhe über uns düsenden Verkehrsflugzeug nachsah. Weit wird es nicht mehr haben bis zum Ziel, wo gibt es dahinten im bretonischen Zipfel noch einen Flughafen, vielleicht in Brest? Ist schon Wahnsinn, wie viele Menschen und Materialien heutzutage jeden Tag durch Verbrennung von Öl hin- und hergeschoben werden. Kaum zu glauben, dass es heute noch ein paar Menschen gibt, die in den Jahren geboren wurden, in denen das alles erst begann, was sich in kaum 100 Jahren wie Schimmel auf einem Pfirsich über den gesamten Globus verbreitete. In den von Wissenschaftlern geschätzten vier Millionen Jahre davor kamen alle noch zu Fuß oder bestenfalls reitend dahin wohin sie wollten, wenn man die See- und Flussfahrt mal außen vor lässt. Vier Millionen Jahre ging auch ohne Motoren alles gut, mal sehen, was in nach nochmal vier Millionen Jahren aus meinem DAF, dem Flieger da oben und all den andern Autos und Flugzeugen geworden ist? So, die Rohre waren alle unten, ich steckte die Seitenwand - bretter wieder rein, schloss die Plane, ließ mir den Lieferschein unterschreiben und machte mich auf den Weg nach Ploërmel zu Breger, um eine neue Ladung für Spanien abzuholen. Die Auffahrt zur N 24 in Richtung Paris war ganz in der Nähe und auf ihr rollte ich entspannt die 50 km zum nächsten Ziel. Die gesuchte Zone Industrielle lag direkt an der N 24 südlich von Ploërmel und war so klein, dass auch das Gelände von Breger leicht zu finden war. Hier war allerdings etwas mehr Ladebetrieb und ich musste mich eine Weile gedulden, bis ich andocken konnte. An der Rampe war man dann schließlich auch sehr geduldig mit mir, bis ich mein Hinterteil in die richtige Position gebracht hatte. Vom Ladevorgang konnte ich von außen nicht viel sehen, hörte und sah meinen Hänger nur gewaltig rumpeln und wackeln, während der Gabelstapler mit Volldampf neue Paletten hinten reinschob. Ich unterhielt mich währenddessen mit meinem an der Nach - bar rampe stehenden Kollegen und fragte ihn, wie er denn mit den Fahrt- und Standzeiten klarkäme und wie eng es die französische Polizei mit deren Korrektheit nähme. Aber für ihn war das kein Thema, er würde nur gelegentlich in seiner Freizeit kleinere Fahrten in der hiesigen Gegend für einen Freund übernehmen, die so kurz seien, dass er überhaupt keine Pausen machen müsste. Als man mich ins Büro rief, um die Frachtpapiere abzuholen, war ich überrascht, dass mein Laderaum nach soviel Gerumpel immer noch fast leer wirkte. Es waren wirklich nicht viele Paletten, aber schließlich musste ich anschließend ja noch 130 km nach Nantes Carquefou, wo man mir schon den Rest geben würde. Außerdem waren meine neuen Paletten schön flach, so dass sie eigentlich nicht umfallen konnten – aber affenschwer. Ich fuhr zuerst auf der N 166 bis Vannes an der Atlantikküste und dann nahe der Küste die N 165 entlang bis Nantes, wobei ich auch wieder die Vilaine-Brücke mit der schönen Aussicht überquerte. Da ich ja vor wenigen Tagen schon mal hier war, musste ich diesmal nicht erst lange suchen, kam aber trotzdem erst an, als die Rampen von MGL-Trelleborg bereits verschlossen waren. Wenigstens das Tor war noch offen und man erlaubte mir im Hof zu parken, um dort schlafend den nächsten Morgen zu erwarten. Aber zuvor machte ich noch einen Spaziergang zum nahegelegenen Carrefour, wo ich mir etwas neues Dosenfutter besorgte und außerdem das billigste Modell eines französischen Mobil - telefons, um aus dem Ausland auch einigermaßen erschwinglich in Frankreich erreichbar zu sein und innerhalb Frankreichs telefonieren zu können. Mein Firmentelefon war für Privatgespräche gesperrt und die Auslandstarife für mein deutsches und mein spanisches Handy waren damals noch ziemlich happig. Kann mich erinnern, dass einmal in Paris nach acht Minuten ganze 24 Euro weniger auf meinem Guthaben waren. Als ich zurückkam, war das Tor jetzt allerdings auch schon geschlossen. Zum Glück war es nicht so hoch, dass ich nicht hätte drüber klettern können, und ich wurde auch von keinem Wachhund oder Nachtwächter gejagt. Ich dachte nur: Gott sei Dank, dass ich nicht auf der Straße schlafen muss. Wem sonst hätte ich an diesem düsteren Ort danken sollen? Bevor ich einschlief kreisten meine Gedanken noch etwas durch mein Buch: Wenn es einen Gott gibt, und warum sollte es keinen geben, nichts ist unmöglich, dann müsste der ja auch, wie alles andere, in jeder Zelle des Universums stecken. In jeder Zelle nur ein Stückchen von ihm? Nein, wenn ja in jeder Zelle das ganze Universum steckt, also alles, jeder Straßenköter, jeder Altglascontainer, jede Blume auf der Wiese, jeder Haifisch im Ozean, einfach alles, jeder Gedanke, der je gedacht wurde, jeder Schmerz und jede Freude, die je gefühlt wurden, dann muss doch auch in jeder Zelle auch Gott als Ganzes vorhanden sein. Und nicht nur einer, für alle Götter ist in jedem Krümel Platz. Der katholische, der evangelische, der jüdische, der arabische, der indische und der indianische, der chinesische, die griechischen wie die römischen und all die anderen, die heutzutage schon vergessen sind und die, die noch kommen werden, auch. Und weil der Raum in jeder Zelle unendlich groß für alles mögliche ist, wird der auch nicht halt davor machen, alles Vergangene, Gegenwärtige sowie alles Zukünftige „gleichzeitig“ zu beherbergen. Als kleiner Knirps hatte ich mir vorgestellt, dass doch das, was für uns ein Tag ist, für eine Ameise vielleicht wie eine Woche und für einen Elefanten wie eine Stunde dauert? Weil doch das, was uns groß erscheint, für einen Elefanten klein ist und das, was uns klein erscheint, für eine Ameise groß ist. Ist Zeit vielleicht einfach nur ein Gefühl, das von der eigenen Größe abhängt? Den rasanten Stoffwechselvorgängen, die sich tagtäglich in unserem Körper abspielen, wo in Sekunden und Minuten ganze Welten entstehen und wieder zerfallen, müssen im Zeitgefühl der „Bewohner“ doch erdgeschichtliche Maßstäbe anhaften. Oder nicht? Und das Zebra, in dessen Herzen z.B. wir durch eine Steppe galoppieren, macht dieses nur einen Schritt nach vorne, für das Zebra weniger als eine gefühlte Sekunde, aber währenddessen läuft unsere gesamte Geschichte vom Urknall bis zum wieder Verschwinden in einem schwarzen Loch? Einmal, hundertmal, unendliche Male? Und nicht nur im Herzen des Zebras, was ja nur ein Beispiel ist, auch in seinem Fuß, in jedem Haar und seinen Exkrementen? Soll das alles Humbug sein, Ideen eines total Bekloppten? Aber alles, was vorstellbar ist, ist wohl auch möglich, solange die Unmöglichkeit nicht bewiesen ist; so wie an der Existenz von Zeus, Osiris, Poseidon, Manitu und all den anderen in vielen Köpfen ja auch kein Zweifel bestand, obwohl sie nie bewiesen wurden. Und wenn nicht nur alle materiellen Dinge, sondern auch alles Gedachte und Gefühlte in jeder Zelle Platz hat, dann nicht nur alle Götter und Götzen, sondern auch der Glaube daran; sowie jede Regung jedes Atheisten hier genauso sein Plätzchen hat. Mein Kopfkarussel fing an weh zu tun, mir wurde schwindlig. Aber bevor sich mein Wunsch erfüllte, dass unsere Erde doch bitte, bitte wieder ein Scheibe sei, schlief ich ein.


Donnerstag, 29.09.2005 - Die Eidechsen von Irun

Ich wurde schon vor dem ersten Gerumpel auf dem Gelände wach und machte mich zwischen dem DAF und dem Zaun etwas frisch, um anschließend im Führerhaus sitzend darauf zu warten, dass die Lichter angingen. Da man sich noch von letzter Woche an mich erinnerte, scherte sich auch niemand um mein langwieriges Kurbeln und Rum - eiern, bis ich fast perfekt an der Rampe stand. Ging dann auch recht flott, bis sie mich bis zur Kante mit weiteren ziemlich flachen, aber affenschweren Paletten abgefüllt hatten. Dann ging es wieder los. Ich hatte mich noch leicht verschätzt, als ich den kürzeren Weg im Uhrzeigersinn um Nantes herum ausprobieren wollte und nicht auf dem entgegengesetzten, schon bekannten Weg zurück. Aber nach einigem Rumgegurke in finsteren Ecken fand ich dann doch noch den Weg zum Ring um Nantes, der mich zur A 83 brachte und blieb dann auch ohne weitere Experimente auf der Autobahn bis Spanien. Nur um Niort herum konnte ich es mir nicht verkneifen, die Umkreisung der Stadt auf einem Weg abzukürzen, der mir von einer Fahrt mit einem Kollegen bei meiner Exfirma im Gedächtnis geblieben war. Da ich bei bestem Wetter am Nachmittag die Grenze überquerte, machte ich kurz hinter Irun an einer Tankstelle Halt, in deren Nähe die Raststätte sein sollte, deren Besitzer ich vor kurzem kennengelernt hatte. Ich parkte als Letzter hinter einer Handvoll weiterer Camiones in der Tankstellenauffahrt und folgte zu Fuß den Wegweisern über endlose Treppen den Abhang hinauf. Auf den Wänden und Einfassungen aus Beton flitzten zahlreiche Eidechsen herum oder aalten sich in der Sonne. Als ich endlich oben ankam, stand ich auf einem riesigen Parkplatz voller Lkw – beim nächsten Mal fahr ich aber auch nach oben ... Ich musste erst noch um das Gebäude herum zu einem Seiten - eingang, weil der Haupteingang gerade umgebaut wurde. Aus Finanzerwägungen (durch meinen bulgarischen Kollegen war ich etwas misstrauisch geworden, jemals Geld zu bekommen) bediente ich mich lediglich am Salatbuffet. Machte zwar alles einen recht frischen Eindruck, war aber etwas geschmacklos, was auch keines der in Kübeln bereit - stehenden Fertigdressings aufbessern konnte. Auf dem Rückweg zur Tankstelle kam ich wieder an den Eidechsen vorbei und fragte mich, ob nicht eine von denen gern mal für eine Weile Mensch wäre. Wenn eine „hier“ gerufen hätte, hätte ich mich vielleicht auf einen Deal eingelassen, eine Weile die Identitäten zu tauschen; aber nur bis zum nächsten Mal, bis wir uns wiedertreffen würden. Ich kurbelte mich wieder aus der Tankstelle heraus auf die N I, das Stück bis San Sebastián war nicht ohne: Kurvenreiches Auf und Nieder durch eine verdammt lange, verdammt eng gehaltene Baustelle. Letzten Samstag war es zwar genauso eng, aber da war auch kein Berufsverkehr. Nicht verrückt machen durch zuviel in die Spiegel gucken, auf mein Gefühl vertrauend, Blick geradeaus und ab durch die Mitte, so ähnlich wie Luke Skywalker bei seinen Übungen mit dem Laserschwert in „Krieg der Sterne“. Hat dann auch geklappt. Hinter San Sebastián ging es 60 Kilometer erst leicht, dann immer mehr bergauf. Kurz vor dem Scheitelpunkt bei Etxegarate sah ich einen Lkw in der ersten Schleife einer hautengen Doppel - kurve auf der Seite liegen. Polizei war schon vor Ort. Ich kannte diese Kurve zum Glück schon, hier hätte es mich beinahe auch schonmal selbst rausgehauen, als ich das erste Mal mit dem Auto hier langfuhr. Dann ging es 25 Kilometer nur noch bergab und ich war wieder in meiner Basis, rief meinen Boss an und fragte, wie es weitergeht. Er wusste es auch nicht gleich und schickte mich erst mal schlafen. Also stellte ich mich in eine Lücke im Gelände und rief Miriam an, um ihr zu sagen, dass ich noch nicht sagen könnte, wann ich wiederkäme. Etwas später sah ich auch meinen bulgarischen Kollegen wieder auf den Hof fahren und nach einem kurzen „Hallo“ setzten wir uns auf ein paar Bierchen in die Hotelbar. Obwohl ich nie ein starker Raucher war, hatte ich es vor ungefähr 18 Monaten ganz sein lassen. Am Tag, als Miriam von ihrer Schwangerschaft erfuhr, hörte sie von einem auf den anderen Tag auf, was ihr als weiblichem Schornstein verdammt schwer fiel. Um es ihr etwas leichter zu machen, hab ich es mit sein lassen. Genau genommen waren wir ja beide schwanger. Aber das war jetzt lange her, Miriam und unser Kleiner waren weit weg und ich saß allein und verlassen mit Genko in einer Hotelbar in der Pampa in den nordspanischen Bergen. Unser Gespräch, dessen Inhalt ich längst wieder vergessen habe, wurde von Bier zu Bier angeregter und irgendwann ging ich zum Zigarettenautomaten. Wir rauchten jeder noch zwei, drei Zigaretten und tranken noch zwei, drei Bierchen, die in Spanien so klein sind wie in Frankreich. Dann gingen wir mit genügender Bettschwere wieder zurück zu unseren Camiones. In dieser Nacht sollte ich von schwarzen Löchern träumen ... Wäre es möglich, mit meinem DAF in den baskischen Aus - läufern der Pyrenäen in einem schwarzen Loch zu verschwinden? Wenn es dort eins gäbe, wohl schon, aber da kann es zum Glück ja keins geben, weil: wenn es eins gäbe, wären wir wohl schon längst alle weg. Na, richtig weg wohl nicht, aber irgendwie doch. Schon noch da, aber halt kleiner, ziemlich klein und wohl auch tot, aber verdammt schwer. Schwerer als alle Steine der Pyrenäen und mein DAF zusammen, schwerer als unser ganzer Planet und alle anderen Planeten in der „Nähe“ zusammen. Wie klein könnte man das alles zusammenquetschen, wenn man die leeren Zwischenräume wegnimmt? Also erst mal den DAF in eine Schrottpresse gesteckt und alle Hohlräume rausgepresst, was bleibt da übrig? Vielleicht ein Kubikmeter? Egal, auch wenn zwei oder drei Kubikmeter übrigbleiben, ist er schon ganz schön geschrumpft, aber immer noch genauso schwer wie vorher. Wenn man jetzt noch die Hohlräume in jedem seiner Atome eliminieren würde, würde er nochmal eine ganze Ecke zusammenschrumpeln. Das meiste an so einem Atom ist ja hohl, in der Mitte der winzige Kern und verhältnismäßig weit weg von ihm die ebenso winzigen Elektronen, die den Kern wie Planeten eine Sonne umkreisen. Wieviel bleibt von einem Atom übrig, wenn man die „Luft“ rauslässt? Wohl weniger als von einem geplatzten Luftballon. Wenn man das mit allen Atomen des DAF machen könnte, wie groß wäre er dann wohl noch? So groß wie eine Milchtüte? Wohl eher noch kleiner, aber immer noch genauso schwer, also vollbeladen: 40 Tonnen. Und wenn man jetzt das gleiche Spiel weiterspielt, jeden Atomkern als eine Sonne und jedes Elektron als einen Planeten betrachtet, egal, ob rot und tot wie den Mars oder mit Hunden, Katzen, Pferden, Wäldern und Meeren, Tränen und Gelächtern, Kinos, Theatern und Achterbahnen versehen wie unsere Erde, dann könnte man hier ja nochmal alle Hohlräume eliminieren. Dann würde der DAF sicher in eine Schachtel passen, die weniger als einen Kubikmillimeter misst, würde aber immer noch 40 Tonnen wiegen. Und wenn es möglich wäre, solch ein Spiel zu beginnen, ist es schwer, sich vorzustellen, dass dieses ein Ende finden könnte. Das Ende eines Spiels von immer kleiner werdenden Welten, aus denen man die Hohlräume wegnimmt, ist genauso wenig vorstellbar wie eine Mauer am Ende der Welt, hinter der nichts mehr kommen soll. Und wenn mein DAF, immer noch 40 Tonnen wiegend, irgendwann nur noch den milliardsten Teil eines milliardstel Kubikmillimeters groß ist, hat er vielleicht schon genug Anziehungskraft, um alles um ihn herum, einfach die Hohlräume eliminierend, „aufzusaugen“? Zuerst wäre ich wohl dran und die Schrottpresse, dann der Boden unter uns, dann die ganze Stadt, das ganze Land, die ganze Erde, der Mond und die Sonne und von Merkur bis Pluto auch die Planeten, dann die nächsten Planetensysteme und irgendwann auch das Zebra in dessen Herzen wir durch die Steppe galoppieren und unendlich so weiter. Das Gewicht von Millionen von Planeten in einem Punkt von fast null Millimetern. Oder gibt es sogar eine Größe, die noch kleiner ist als null?


Freitag, 30.09.2005 - Start nach Belgien

Am Morgen weckte Don Pepito mich telefonisch, um mir zu sagen, dass ich meinen Auflieger stehenlassen sollte, er würde von einem Kollegen weiter ins Innere Spaniens gebracht. Er gab mir das Kennzeichen eines anderen, schon beladenen Aufliegers, den ich zu Volvo nach Gent in Belgien fahren sollte. Der zweite eigenhändige Versuch einen Auflieger abzustellen, gelang reibungslos. Aber dann, als gegen Mittag endlich der für Volvo bestimmte Auflieger auf den Hof rollte, wollte und wollte dessen Anhängen einfach nicht gelingen. Obwohl andere Kollegen, auch Genko war dabei, ihr Bestes gaben, um mir zu helfen, blieb der Hänger jedesmal stehen, wenn ich losfuhr, es wollte einfach nicht „klack“ machen. Nach mehreren Telefonaten mit Pepito, bei denen er auch von erfahrenen Kollegen bestätigt bekam, dass es nicht an mir läge, es müsse ein Defekt sein, schickte er mich zu einer nur 10 Kilo - meter entfernten Werkstatt, auf halbem Wege nach Etxegarate. Dort musste ich erstmal warten. Als dann der Chef persönlich einen Blick auf das „Quinta rueda“ (zu deutsch: fünftes Rad oder in noch besserem Deutsch: Sattelplatte) warf, entdeckte er schnell einen verbogenen Haken, der nicht mehr in seinen Weg passte und konnte daher den Zapfen des Aufliegers nicht mehr umschließen. Als ich ihn fragte, wie sowas passieren könnte, meinte er, keine Ahnung zu haben, so was hätte er noch nie gesehen. Nach einer weiteren Weile des Wartens kam ein junger Mechaniker und fuhr meinen DAF in die Werkstatt. Dort löste er die Befestigungsschrauben, hob die Sattelplatte mit einem Flaschen zug herunter und legte sie auf dem Boden ab. Dort zerlegte er sie in Einzelteile und zeigte mir, welche Teile ausgewechselt werden müssten. Als ich ihn fragte, wie sowas passieren könnte, war er recht überrascht, dass sein Chef so etwas noch niemals gesehen haben wollte, sowas hätten sie doch dauernd, würde ungenügend eingewiesenen Anfängern immer wieder passieren. Er tröstete mich aber damit, dass jeder Mensch sein spezielles „don“ (Talent, Begabung) hätte und meines wäre wahrscheinlich ein anderes. In der Fahrschule hatten wir allerdings auch nur einen Hängerzug zum Üben gehabt; Sattelzüge hatte es nur in den Lehrbüchern gegeben. Er allerdings hätte sein „don“ hier bei seiner Arbeit gesucht und gefunden und wäre glücklich und zufrieden. Er erklärte mir, man müsse die Zugmaschine einfach erstmal niedrig genug und möglichst mittig unter den Auflieger fahren, weit genug, aber nicht zu weit. Dann die Hinterachse der Zug - maschine soweit hydraulisch anheben, dass die Sattelplatte der Zugmaschine und die Aufliegeplatte des Aufliegers sich gerade so auf ihrer ganzen Fläche berühren, also keinen Abstand lassen, aber auch nicht zuviel Druck nach oben ausüben. Am wichtigsten sei das richtige Mittelmaß. Zu tief oder zu hoch wäre immer schlecht. Wenn man jetzt sachte rückwärts fährt, macht es einfach irgendwann „klack“ und der Hänger hängt. Vor dem Losfahren jetzt nur nicht vergessen, die Stellfüße hochzuklappen. Wenn mir das ja mal früher jemand erklärt hätte, würde ich jetzt vielleicht nicht hier stehen. Aber welcher Transporteur nimmt sich hierfür schon Zeit?! Um in irgendeiner Form auch mal zu punkten, erzählte ich ihm, dass ich beim gleichen Fahrlehrer wie Michael Schumacher den Führerschein gemacht hätte, allerdings fünf Jahre früher als „Schummi“. Da wo ich herkomme, allerdings nichts Besonderes, allein aus meinem Schuljahrgang waren bestimmt Dutzende andere auch bei Karl-Heinz vom Zippe „on road“ gegangen. Aber in Spanien, wo Michael Schumacher, ähnlich dem Propheten im fremden Land, fast auf einem noch höheren Helden treppchen stand als bei uns in Deutschland, ist so eine Aussage erst einmal so unglaublich, dass mehrmals nachgefragt wird, ob das auch kein Scherz sei. Anschließend erzähle ich aber meistens, dass Michael und ich wohl außer dem gleichen Fahrlehrer nichts gemeinsam haben. Für ihn zählt nur die möglichst kürzeste Zeit zwischen Start und Ziel. Mein Blick hingegen bleibt immer wieder an den vielen Interessantheiten hängen, die rechts und links des Weges liegen, wofür man auf einem Camión leider viel zu wenig Zeit hat. Noch weniger davon hat man wohl auf einer Formel I Strecke, bis ich ins Ziel käme, wäre wahrscheinlich außer mir niemand mehr da. Aber trotzdem bemühe ich mich immer um ein waches Auge für das, was vor mir passiert, sonst würde es mir am Ende so gehen wie Karl Lagerfeld, der durch sein Interesse für Schönes abseits der Strasse, laut eigener Aussage, erst zweimal mit Total - schaden dem Tod von der Schippe springen musste, bevor er das Fahren lieber sein ließ. Der Mechaniker schraubte ruhig und gelassen weiter. Er schien seinen Job wie eine Meditation zu genießen, jeder Handgriff saß perfekt. Er fragte mich ob es wirklich wahr sei, dass es in Deutschland kein Tempolimit auf Autobahnen gäbe. Als ich ihm erwiderte, dass das stimmen würde, hakte er noch mal nach: „In Deutschland darf wirklich jeder Gas geben, soviel er kann?“ Ich antwortete, dürfen schon, aber können ist das Problem. Er dürfe sich deutsche Autobahnen nicht so vorstellen wie spanische. Im Gegensatz zu den spanischen Luxus-Pisten sind die deutschen voller Baustellen und voll mit Fahrzeugen. Hier tummeln sich nicht nur deutsche Massen. Mit neun Nachbarländern und deren Nachbarländern drängelt sich hier halb Europa – und damals auch noch mautfrei. Er sollte sich also nicht allzu große Illusionen von einer Spritztour nach Deutschland machen. Aber um ihn nicht völlig zu enttäuschen, meinte ich, mit etwas Geduld könnte er auch Glück haben, jede Autobahn hätte auch mal relativ leere Stunden. Irgendwann war der Schaden wieder behoben und nachdem ich den Lieferschein unterschrieben hatte, machte ich mich auf den Rückweg zur Basis. Dort angekommen, konnte ich mich heute zum zweiten Mal im Aufsatteln üben, was jetzt auch perfekt gelang. Langsam wurde es dunkel. Der Auflieger hing zwar bombenfest, aber die Kabelanschlüsse waren irgendwie anders als ich sie kannte. Mir schien als würde ein Kabel fehlen. Erst zögerte ich noch, meinen armen Boss schon wieder ins Schwitzen bringen zu müssen, aber nach weiteren Überprüfungen und Versuchen rief ich dann doch an. Nach einigen Erklärungen übers Telefon mit Blick auf die Kabel, meinte Don Pepito, bei diesem Auflieger müsse ich das ABS-Kabel anschließen. Das müsste hinter der Klappe neben der Fahrertür liegen. Da lag aber kein Kabel. Er meinte zwar, dass das nicht sein könne, aber auch mit noch mal gucken und noch mal gucken tauchte es nicht auf. Schließlich gab er mir den Rat, in der Werkstatt zu fragen, ob die eins für mich hätten. Fragt sich jetzt jemand, wieso ich 10 Kilometer in eine andere Werkstatt fahren musste, wenn es doch auch hier eine gab? Zur Erklärung: Hier werden nur Hänger und Auflieger repariert, die Eigentum von Mariposas sind. Um alle Fahrzeuge, die Eigentum der Transporteure sind, müssen sich die Transporteure selber kümmern. Deswegen hatte es Don Pepito wohl auch sehr gelassen genommen, als ich mit dem Dach des Aufliegers an der Brücke in Le Mans hängengeblieben war, es war ja nicht sein Auflieger ... Ich lief also rüber zur Werkstatt, aber hier war schon alles dunkel und verschlossen. Mit einem weiteren Anruf wurde ich ins Basis-Büro geschickt, hier müsse ja rund um die Uhr noch jemand sein. Dort fand ich zwar jemand, aber ein ABS-Kabel hatten die auch nicht. Gegen 22:30 Uhr gab es allerdings noch eine Überraschung: Vor dem Schlafengehen hatte ich mir es auf meinem Fahrersitz ein bisschen gemütlich gemacht und genoss die Aussicht auf die Dieselzapfanlage gegenüber der Ein- und Ausfahrt. Plötzlich fuhr ein Sattelzug herein und wer stieg an der Tank - stelle aus um seine Tanks wieder zu befüllen? – Der Bruder vom Boss! Er kam winkend herüber und erklärte, dass er nicht viel Zeit hätte; er käme gerade aus Frankfurt am Main und müsste jetzt noch nach Valladolid. Aber sein Bruder hätte ihm telefonisch Bescheid gegeben, dass er mal nach mir schauen solle. Nachdem er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, dass hinter meiner Klappe kein ABS-Kabel war, verschwand er im Dunkel der Nacht. Nach einer kleinen Weile tauchte er aus einer Reihe auf der anderen Seite geparkter Camiones wieder auf und schwang freude strahlend ein ABS-Kabel über seinem Kopf. Hijo puta madre, wo hat er das denn „gefunden“? Aber ich verkniff es mir danach zu fragen, wollte es gar nicht so genau wissen. Es machte jetzt nur noch zack zack, und schneller als ich gucken konnte, war das Kabel auch schon angeschlossen. Da ich heute ja noch nichts gearbeitet (sprich: Kilometer gemacht) hätte, sollte ich mich jetzt aber hurtig auf den Weg machen: die rund 400 km bis Bordeaux, dann ein paar Stunden schlafen, aber nicht zu lange. Weil, ich müsste unbedingt bis Samstag 22:00 Uhr soweit wie möglich kommen. Danach müsste ich mich wegen des französischen Sonntagsfahrverbots bis Sonntag 22:00 Uhr auf einen Parkplatz stellen. Es wäre im Interesse der Firma und müsste doch auch ein Leichtes sein, wenn ich am Samstag die 600 km von Bordeaux bis Paris schaffen könnte. Und ganz wichtig: ich müsste unbedingt am Sonntag um Punkt 22:00 Uhr gleich weiterfahren, um am nächsten Morgen schon in Gent zu sein und nicht im Pariser Berufsverkehr stecken zu bleiben. Also gut, wieder zurück nach Frankreich, vorbei an der DAFWerkstatt, bergauf bis Etxegarate und dann wieder bergab bis San Sebastián; in dieser Fahrtrichtung gab es auch die verflixte Kurve nicht. Mal wieder rauchend fuhr ich durch die Nacht und die psychedelische Musik eines baskischen Radiosenders ließ mich leicht dahinschweben wie den Führer eines Raumschiffs. Ich war erstaunlich fit und auch die kilometerlange Baustelle zwischen San Sebastián und der Grenze durchflog ich wie ein Vogel. Um diese Uhrzeit war aber auch kaum Verkehr. Erst die zahlreichen Stops an den Mautstellen alle paar Kilometer vor und nach der Grenze fingen an, mich zu ermüden. Ich fuhr noch schätzungsweise 100 – 150 km nach Frankreich rein und machte mir es dann mal wieder auf einem Parkplatz gemütlich.


Samstag, 01.10.2005 - Paris bei Nacht

Irgendwann vormittags wurde ich wieder wach, machte mich in gewohnter Weise frisch; und da ich in Frankreich war, gab es Kaffee mit Croissant zum Frühstück. An dieser Tankstelle war ich schon mal mit einem Kollegen meiner Exfirma gewesen. Ich weiß nicht mehr mit wem, aber egal ob Spanier oder Bulgare, alle tranken von morgens bis abends Kaffee. An jeder zweiten Tankstelle hieß es fast immer: „Tomamos un café?“ (Nehmen wir einen Kaffee?) Mir reichte morgens ein Kaffee, tagsüber trank ich lieber Wasser und abends ein, zwei Bier zum Einschlafen. Sind schon ziemlich öde diese Parkplätze, wenn man nicht müde wird. Aber meistens war ich auch ohne Bier müde genug, um schnell die Augen zuzumachen. Bald fuhr ich wieder an Bordeaux vorbei und dann, um Maut zu sparen, von der A10 auf die N10 über Angoulême bis Poitiers. Als ich wieder auf die A10 wechselte, stand in der Auffahrt ein Pkw mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Hinten saßen zwei Kinder und aus dem Fahrertürfenster winkte ein Mann. Na ja, hielt ich also an. Der Mann kam angelaufen und kletterte auf der Beifahrerseite zu mir ins Führerhaus. Er käme mit seinen Kindern aus dem Osten Europas, erklärte er und wollte heute noch in Paris ankommen. Leider wäre ihm der Sprit ausgegangen. Er wollte aber nichts geschenkt haben, er wolle mir einen irre wertvollen Ring schenken, wenn ich ihm mit etwas Geld für Sprit aushelfen könnte; mit 50 Euro wäre ihm schon sehr geholfen. Für wie blöd hielt er mich eigentlich? Ich dankte ihm trotzdem für dieses überaus großzügige Angebot, aber das könnte ich unmöglich annehmen, außerdem hätte ich ja selbst heute noch nichts gegessen und nur noch einen Fünfer und einen Zehner im Portemonnaie, was zum Glück stimmte und ich ihm auch zeigte. Nachdem ich ihm den Fünfer schenkte, wollte er mich noch überreden, ihm den Zehner auch noch für den Ring zu schenken, gab aber irgendwann auf. Hatte er am Ende vielleicht sogar Mitleid mit mir bekommen? Zurück in Spanien fiel man aus allen Wolken, wie ich in so einer Situation nicht nur anhalten, sondern auch noch die Tür öffnen konnte. Anhalten okay und zur Not Rettung herbeitelefonieren auch, aber niemals die Tür aufmachen! Wie viele Scheine hätte er wohl wittern müssen, damit er mir eins überzieht? Mit diesem Hänfling wäre ich sicher noch fertig geworden, aber hätte ich wissen können, ob er nicht in irgendeiner Form bewaffnet gewesen war oder ob die großen Brüder der Kinder vom Rücksitz im Kofferraum versteckt gewesen waren ..? Ich fuhr dann ungestört weiter, aber schon bald klingelte das Telefon, mein Boss brauchte unbedingt den Lieferschein von den Plastikrohren aus Miranda; ich solle ihm von der nächsten Tank - stelle ein Fax schicken. Also fuhr ich an der nächsten Tanke raus und fragte, ob sie ein Fax hätten. Hatten sie, allerdings: pro Blatt 3,50 Euro. Na super, dachte ich, wenn ich mit meinem letzten Zehner bezahle, bleiben mir gerade mal 6,50 Euro über. Gleich, nachdem ich das Fax geschickt hatte, rief mein Boss schon wieder an und meinte es müsste noch eine zweite Seite geben, die mit der Unterschrift. Die erste Seite allein würde ihm nichts nutzen. Mist aber auch! Nachdem ich nun noch ein Fax verschickt hatte, fuhr ich mit drei Euro in der Tasche weiter in Richtung Paris. Zudem eine ziemlich langweilige Fahrt. Zwar mit Radio- Unterhaltung, aber ich fuhr stundenlang nur geradeaus. Gegen 21:00 Uhr nahm ich die Ausfahrt Villejuif kurz vor dem Boulevard Périphérique. In Villejuif hatte ich vor zwei Jahren mal mit Miriam übernachtet, als wir mit dem Auto auf dem Weg von Gross-Umstadt nach Valladolid unterwegs waren. Villejuif, einen Pariser Banlieue südlich des Zentrums, durchquerte ich zuerst in östlicher Richtung von der A10 in Richtung N7. Die Straße war ziemlich eng zwischen rechts und links vollgeparkten Straßenrändern und dem permanenten Gegenverkehr. Schweißgebadet, aber heil, stieß ich genau an der Metro-Station auf die nach Orly führende N7, wo ich mit Miriam vor zwei Jahren auf den Zug gewartet hatte, der uns zur damals schwangeren Daphne, deren Mann Jean-Paul und Aurelia brachte. Ich bog im knappen, rechten Winkel ab nach Süden, ohne was kaputt zu machen und fuhr einige Kilometer geradeaus. Viel Zeit, einen Standplatz zum Schlafen zu finden, hatte ich nicht mehr. Es war schon fast halb zehn, als ich in Rungis einen Wegweiser zu einem Centre Routier entdeckte (in Deutschland: Autohof). Leider schickte mich der Wegweiser immer nur im Kreis herum, ohne mich dem Ziel näherkommen zu lassen oder wenigstens wieder aus dem Kreis herauszulotsen. Da mir Genko erzählt hatte, wie teuer die Missachtung des Sonntagsfahrverbotes im Baskenland war, gab ich schließlich entnervt auf. Was Strafgebühren angeht, sind die Franzosen bestimmt auch nicht zimperlich. Ich stellte mich einfach irgendwo an den Rand. Da stand ich nun in einem halbdunklen Industriegebiet neben einer bestimmt 20 Meter hohen fensterlosen Halle unter einer noch höheren Straßenlaterne und guckte aus dem Fenster. Hier gab es keinen Wasserhahn, kein Klo, keinen Kaffee und nichts zu essen, wie sollte ich hier bis Sonntagabend 22:00 Uhr, mit drei Euro in der Tasche überstehen?? Ich rief erst einmal bei Frédéric an, um zu fragen, ob er eine Idee hätte, aber der war nicht zu Hause, ich sprach ihm auf den Anrufbeantworter. Frédéric hatte ich 1987 auf einer ziemlich schrägen Reise durch den Süden Frankreichs in Avignon kennengelernt. Im Schnitt so alle 10 Jahre besuche ich ihn mal, was bei ihm nicht so leicht ist, weil er ständig umzieht. Im Sommer wohnte er noch im Zentrum von Paris, jetzt im Herbst etwas außerhalb hinter Versailles in Fontenay Fleurie. Im Frühjahr ’99 hab ich ihn mit Anette mal in Evreux in der Normandie besucht, wo er mit seiner Frau und vier gemeinsamen Kindern in einem eigenen alten Häuschen wohnte. Nach einer friedlichen Trennung von seiner Familie war er zur Zeit solo und auf der Suche nach dem Mann fürs Leben. Das hat mich zwar ziemlich erstaunt, als ich es erfuhr, hat auf unseren Kontakt aber keinen Einfluss genommen. Wenige Wochen später schrieb er mir, dass er wieder in Paris in der Nähe der Oper wohnen würde, zusammen mit einem Opern sänger, in den er sich verliebt hätte. Das Letzte, das ich von ihm hörte, war, dass er wieder alleine in der Normandie, in der Nähe seiner Kinder wohnen würde. Na ja, da saß ich nun mit drei Euro in der Tasche in meinem DAF im nächtlich ausgestorbenen Rungis und beschloss, einen Spaziergang zu machen. Ich lief ein paar Kilometer entlang der N7 zurück Richtung Paris. Ich fand dabei zwar keinen Geldautomaten, aber ein geöffnetes McDonalds-Restaurant mit Waschbecken und Klo. Die drei Euro, die ich noch hatte, wollte ich mir lieber für morgen aufheben, ich hatte ja noch ein paar Knabberkonserven in meiner Kiste im Lkw.


Sonntag, 02.10.2005 - Mit Frédéric im Land der Apfelbäume

Nach einem spärlichen Frühstück aus meiner Knabberkiste klingelte gegen 10:30 Uhr das Telefon, es war Frédéric. Er fragte mich, ob ich mit ihm einen Ausflug in die Normandie machen wolle, ins Haus seiner Schwester etwas außerhalb von Bernay. Es würden dort heute vier Geburtstage gefeiert, der von Frédéric, der seiner Schwester, der seiner Exfrau und der eines seiner Kinder, die alle im September und Oktober Geburtstag hätten. Ich müsste mich allerdings beeilen, der Zug vom Gare St.Lazare würde in einer Stunde losfahren. Ungeduscht und seit einer Woche in denselben Klamotten schlüpfte ich schleunigst in die Schlappen. Zum Glück reichte mein Geld noch für einen Bus zur nächsten Metro-Station und ein U-Bahn-Ticket zum St.Lazare. Schwitzend und außer Atem kam ich doch tatsächlich gerade noch rechtzeitig am Bahnsteig an, wo Frédéric mich schon mit einer Tüte Croissants und zwei Fahrkarten winkend erwartete. Um so entspannter genoss ich dann die wunderschöne Zugfahrt: Zunächst raus aus Paris, ab und zu eine Strecke entlang der Seine, immer weiter in die Normandie hinein, bis wir nach ca. 180 km in den Bahnhof von Bernay einfuhren. Hier erwartete uns Frédérics Mutter, die ich vor Jahren mal in Bordeaux kennenlernte, mit ihrem kleinen Peugeot. Nach einer herzlichen Begrüßung fuhren wir hinaus aufs Land der Apfelbäume, zum Haus von Frédérics Schwester Dominique, die dort mit ihrem Mann Nicolas und den drei Kindern wohnte. Ein langgezogenes, großes Haus mit riesigem Garten, mit viel Wiese, Bolzplatz und Apfelbäumen. Drinnen waren alle Tische des Hauses im Wohnzimmer in eine Reihe gestellt, der Küchen - tisch musste sogar zum Küchenfenster hinaus und zum Wohn - zimmerfenster wieder herein bugsiert werden, da er nicht durch die Türen passte. Dominique und Nicolas hatte ich auch schon mal in Bordeaux getroffen, als ich Frédéric zufällig an seinem Geburtstag dort besuchte, als er eine Zeitlang bei seiner Mutter wohnte. Heute, 17 Jahre später, kam ich wieder genau richtig zum Geburtstagsessen. Dominique und Nicolas hatten mittlerweile drei Kinder: ein Mädchen und zwei Jungs, Frédéric und Corinne sogar vier: ein Mädchen und drei Jungs. Und alle waren da. Wie man mit Michael Schumacher in Spanien trefflich angeben kann, so kann man es mit Pablo Picasso in Deutschland. In Frankreich funktioniert beides ganz gut: Eine Tante unseres Sohnes ist nämlich eine Großnichte von Pablo Picasso – das klingt doch nach was, oder? Ist aber halt nur fast richtig, weil diese Tante halt keine Tante geworden ist. Das gemeinsame Haus war schon gebaut, die Hochzeit mit meinem Schwager stand (lange vor meiner Zeit) kurz bevor, dann hatte die gute Tante kalte Füße bekommen und im letzten Moment die Flucht ergriffen. Nach zahlreichen verdammt leckeren, hausgemachten, normannischen Spezialitäten gingen die Kinder raus in den Garten und spielten Fußball. Bis auf Dominiques’ Tochter Mathilde, die lieber ihrem Vater half, Äpfel für den Kuchen aufzusammeln. Frédérics Tochter Abigail kickte wie ein Junge mit ihren Brüdern und Cousins. Als ich sie im Frühjahr ’99 das letzte Mal gesehen hatte, waren sie und ihr Bruder Eloi, glaub ich, so sieben und acht Jahre alt gewesen, Calixte war noch ganz frisch und Etienne war noch im Bauch von Corinne. Dominiques Zwillingsjungs Benoît und Clement sind wohl etwas jünger als Abigail und Eloi, Mathilde, die Apfelsammlerin, vielleicht ähnlich wie Calixte. Nachdem sie sich alle müde und wieder hungrig gekickt hatten, waren auch die Apfelkuchen fertig und wir versammelten uns wieder um den Tisch. Ein Apfelkuchen wurde „happy birthday“ in französisch, eng- lisch und sogar deutsch singend mit sieben brennenden Kerzen hereingetragen und vor Calixte auf den Tisch gestellt. Nachdem er sie ausgepustet hatte, wurden kreuz und quer zahlreiche Geschenkepäckchen ausgetauscht und unter Applaus ausgepackt. Als auch die Kuchen- und Kaffeeschlacht geschlagen war, kam ein langer Abschied mit viel Geküsse, Gedrücke und Hände - schütteln und Frédérics Maman fuhr uns wieder zum Bahnhof. Es war ein Tag, unwirklich wie ein Traum, mit dem ich gestern Abend in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte. Traurig daran war nur, dass Miriam und Álvaro so weit weg waren. Mit jedem Kilometer Zugfahrt Richtung Paris fuhr ich in die Realität zurück; um 22:00 Uhr würde ich den DAF anlassen und nach Belgien fahren. Am Gare St.Lazare fand ich noch einen Geldautomaten, wenigstens konnte ich Frédéric jetzt noch das Geld für die Fahr - karte geben, bevor ich in der Metro verschwand. Gegen 21:30 Uhr saß ich wieder im DAF und hätte mich jetzt am liebsten hinter den Sitz verkrümelt, um die Augen zuzumachen. Aber: Punkt 22:00 Uhr brummte ich los. Zuerst immer geradeaus in die Stadt hinein bis zum Boulevard Périphérique, gelegentlich mit Blick aus dem Fenster auf die nachtbeleuchteten Pariser Monumente. Einmal halb um Paris herum, bis zum Zubringer zur A1, auf der es bis nach Belgien geht. Unter dem Flughafen Charles de Gaulles im Tunnel hindurch ging es immer geradeaus und geradeaus, dass ich nach fast 200 km nicht peilte, dass ich, um auf der A1 Richtung Gent zu bleiben, hätte abfahren müssen – jetzt war ich auf der A2 Richtung Brüssel. Da es aber kein wirklich großer Umweg war, versuchte ich gar nicht erst zu wenden und fuhr einfach weiter ...


Montag, 03.10.2005 - Umstellt von 5 Blaulichtern

Vorbei an Cambrai und Valenciennes kam ich irgendwann zur belgischen Grenze. Ich hätte sie kaum bemerkt, wäre ab da die Autobahn nicht auf beiden Seiten mit Festbeleuchtung ausgestattet gewesen. Auch als ich später einmal nachts von London zum Hunsrück flog, sah ich an diesen Lichterketten sofort, wo Belgien anfängt und wieder aufhört. Ich durchrollte putzmunter bei sternenklarem Himmel fast allein auf der Piste die elegant geschwungenen Fahrstreifen um Brüssel herum und suchte dabei mit einem Auge das Atomium, welches nachts wohl auch hell erleuchtet sein müsste, fand es aber nicht. Die letzten 70 km bis Gent, wo ich gegen 5:00 Uhr ankam, ging es dann wieder monoton geradeaus. Nördlich von Gent, wo ich meinen Frachtempfänger suchte, lagen in greifbarer Nähe gewaltige Ozeandampfer vor Anker. Zum Meer waren es sicher noch an die 50 km, das müssen ja ziemlich fette Kanäle sein. Am Tor von Volvo angekommen, legte ich mich schlafen, aber um 9:00 Uhr klingelte mein Wecker schon wieder zum Abladen. Zuerst mit den Papieren von einem Büro zum anderen, dann wieder warten. Schließlich durfte ich endlich in eine Halle fahren – und wieder warten. Eine Weile nach mir fuhr noch ein korpulenter Deutscher in die Halle, der musste auch warten. Er meinte nur, wenn er noch lange warten müsse, bliebe der ganze Scheiß halt auf dem Laster und er führe wieder nach Hause, er habe schließlich um 16:00 Uhr Feierabend. Irgendwann wurden wir beide dann doch entladen und gegen ein Uhr mittags fuhr ich wieder raus zu einem anderen Gelände, wo ich leere Europaletten laden sollte. Hier stand ich ab halb zwei aber in einer langen Schlange und konnte wieder nicht schlafen, weil ich alle viertel bis halbe Stunde ein Stückchen aufrücken musste. In den Standpausen ging ich zwischen den Fahrzeugen spazieren, saß auch mal eine Weile über den Sinn des Lebens nachdenkend, an einem Enten - teich am Ende des Geländes. Würde ich auch hier sitzen, wenn Jesus Christus als kleiner Junge die Treppe runtergefallen wäre und sich das Genick gebrochen hätte? Wahrscheinlich nicht, dann würde ihn heute niemand mehr kennen und es wüsste kaum jemand, dass er vor 2000 Jahren gelebt hat. Wir hätten vermutlich auch eine andere Zeit - rechnung und so vieles wäre anders gelaufen, vielleicht auch, dass die meisten von uns niemals zur Welt gekommen wären. Aber was sind schon 2000 Jahre? Nimmt man auf einem Zollstock für tausend Jahre einen Millimeter, dann ist es 2 Millimeter lange her, dass Jesus ans Kreuz genagelt wurde. Menschen gibt es angeblich schon seit vier Metern, vor 60 Metern sind die Saurier verschwunden, die vor 120 Metern gekommen sind und vor vier Kilometern, wird behauptet, hat unser Planet angefangen sich zu drehen. Was sind da schon zwei Millimeter ... Irgendwann lief ich zurück zum DAF und entdeckte zwischen all den unrasierten Holzfällerhemden sowas wie eine Claudia Schiffer im Blaumann am Steuer eines knallroten Mercedes Actros. Da ich nicht der Einzige war, der um sie einen respektvollen Bogen machte, obwohl sie ein deutsches Nummernschild fuhr, tat sie mir zuerst leid: mit soviel Schönheit ist sie wohl noch einsamer auf Europas Autobahnen als meine männlichen Kollegen. Als ich später mit meinem Führerhaus mit ihrem eine Weile auf gleicher Höhe stand, bemerkte ich aber, dass sie pausenlos telefonierte. Mit einer Handyflatrate ist manche Frau unterwegs vielleicht sogar glücklicher als zuhause. Da ich aber immer ganz schnell wegsah, wenn sie in Gesprächs - pausen mal herüberblickte, kam ich nicht dazu, sie zu fragen, wer sie denn wäre und wie sie auf diesen Job gekommen sei. Irgendwann war ich endlich mit Laden an der Reihe und gegen 17:00 Uhr war mein Auflieger bis unter die Decke mit Paletten vollgerammelt. Da ich über die Hälfte meiner erlaubten Tagesfahrzeit ja noch vor mir hatte, fuhr ich auch sofort los, zurück Richtung Paris. Unterwegs kaufte ich mir an einer belgischen Tankstelle noch ein paar belgische Kekse, Schokolade und Zigaretten; und nachdem ich mich an der französischen Grenze mit meinem französischen Handy bei Frédéric zum Übernachten angemeldet hatte, kam ich gegen 22:30 Uhr wieder in Paris an. Eigentlich müsste ich jetzt meine elf Stunden Schlafpause machen, aber wo sollte man auf dem Boulevard Périphérique ein Auge zumachen, außerdem erwartete mich ja auch Frédéric. Ich fuhr noch eine Stunde um Paris herum, dann an Versailles vorbei und um 23:30 Uhr rief ich vom Ortseingang von Fontenay Fleurie bei Frédéric an und teilte ihm mit, dass die Einfahrt in den Ort nur bis 7,5t erlaubt wäre; ob er vielleicht einen anderen Weg wüsste und ob es bei ihm überhaupt einen Parkplatz gäbe. Als er meinte, ich könne bestimmt im Hof parken, dachte ich noch, na ja, aber ich fuhr seiner Beschreibung nach auf abenteuerlichen Wegen, spitzwinkeligen Kurven und hautengen Gassen um Fontenay Fleurie herum und fand am Ortseingang auf der anderen Seite das gleiche Schild: bis 7,5t. Egal, dachte ich und fuhr weiter, die Hauptstraße war ziemlich gerade und auch breit genug. Da Frédéric aber nicht in der Hauptstraße wohnte, hielt ich irgendwann und rief wieder an, mit diesem Fahrzeug konnte ich ja keine Adresse in einem Seitensträßchen suchen. Kurz darauf sah ich ihn, schon von weitem winkend, in meine Richtung laufen und fuhr ihm entgegen. Nachdem wir uns mitten auf der Strasse begrüßt hatten, meinte er mit ziemlich großen Augen auf meinen Brummi gerichtet: „Der passt wohl doch nicht in den Hof.“ Also fuhren wir einen Parkplatz suchen. Als wir nach ein paar Kilometern geradeaus immer noch keinen gefunden hatten, fanden wir wenigstens eine Möglichkeit zu wenden. Wir fuhren wieder zurück und da, wo es von der Hauptstraße zu seiner Straße ging, parkte ich mitten auf der Straße. Die Straße war hier ziemlich breit; wenige Meter hinter uns lief die A12 auf einer Brücke über diese Straße. Zwischen dem rechten und dem linken Fahrstreifen war außerdem ein rot angepinselter Asphaltstreifen, zwar bestimmt kein Parkplatz, aber wohl auch keine Fahrspur. Um 0:30 Uhr zog ich den Zündschlüssel und drückte den Fahrtenschreiber auf Pause. Wir liefen zuerst ein Stück in eine Straße hinein und dann auf schmalen, heckengesäumten Asphaltwegen durch eine Siedlung relativ neuer, aber doch schon heruntergekommener Wohnblocks mittlerer Höhe, bis wir an seiner Haustür ankamen. Der ziemlich abgerackte Eingangsbereich und ein noch abgerackterer Fahrstuhl ließen mich nichts Gutes erwarten. Auch was er mir über den eigentlichen Mieter seiner Wohnung, die er zur Untermiete übernommen hätte, erzählte, verursachte bei mir spontan so was wie Traurigkeit, Melancholie und Mitleid mit allen Bewohnern dieses Hauses, wenn nicht des ganzen Viertels. Die winzige, erbärmlich möblierte Wohnung war zwar auch nicht besser als der Rest des Hauses, aber seine spärlichen Habseligkeiten, die in wenigen Koffern Platz fänden, verliehen dem Ganzen einen speziellen Charme. Das chaotische Durcheinander an Büchern, Schallplatten, Kla - motten, Zeitungen und überall verstreuten Zetteln um ein Sofa, eine Bodenmatratze, einen kleinen Tisch und zwei Stühle herum, erinnerten mich an meinen Freund Uwe. Bei ihm sah es ähnlich aus, daher weiß ich auch, dass jeder Zettel an seinem richtigen Platz liegt. Wenn jemand es wagen würde, sich durch etwas „Aufräumen“ Platz zu schaffen, wäre das ganze ausgeklügelte System im Arsch und der Besitzer der Zettel würde sich nie mehr im Leben zurechtfinden. Daher setzte ich mich auf einen zum Glück leeren Stuhl und Frédéric auf den anderen. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, über den Sonntag bei seiner Schwester, meine Familien in Spanien und Deutschland, seinen und meinen Job, meinte ich irgendwann, dass mir meine Parkplatzwahl doch nicht so ganz geheuer sei. An Weiterfahren wäre zwar auch nicht mehr zu denken, meine Tachoscheibe von heute war schon überstrapaziert, aber vielleicht wäre es doch besser, im Fahrzeug zu schlafen, dann könnte ihm wenigstens nichts passieren. Frédéric begleitete mich zurück zum DAF und als wir um die letzte Ecke bogen, staunte ich nicht schlecht. Vier oder fünf Blaulichter hatten meinen Laster umzingelt und überall liefen Polizisten herum. Vom Schreck getrieben, rannte ich auf sie zu und rief spanisch und französisch mal wieder durcheinander bringend: „Hola, que pasa? Je suis le conducteur! “ (Hey, was geht ab? Ich bin der Fahrer!) Ich dachte ja, mein Parken auf dem Mittelstreifen wäre der Anlass ihres massenhaften Erscheinens, und das mitten in der Nacht in diesem ausgestorbenen Kaff, die müssen ja spinnen, die Gallier. Aber die Beamten, die mich vorne am Führerhaus empfingen, meinten nur, ich solle mal nach hinten gehen. Die Beamten am anderen Ende beruhigten mich und meinten, es wäre nichts passiert, alles wäre in Ordnung. Ich verstand nicht richtig, aber sie erklärten weiter, dass meinem Lkw nichts passiert wäre. Meinem Lkw nichts passiert, häää??? Jetzt erst dämmerte mir, dass sie nicht meinetwegen da waren, sondern wegen eines Unfalls, der sich direkt hinter meinem Fahrzeug ereignet hatte. Das eine Auto mit Blaulicht oder Gelb- oder Grünlicht auf dem Dach war gar kein Polizeiauto, zwar irgendein Kommunal - fahrzeug, aber kein Polizeiauto. Der Fahrer hatte aus was weiß ich für Gründen sämtliche Verkehrszeichen auf der hinter dem DAF liegenden Verkehrs - insel abgemäht und war wenige Millimeter hinter meiner Stoß - stange zum Stehen gekommen. Obwohl ich den Eindruck hatte, dass mir niemand irgendeine Schuld für irgendetwas geben wollte, suchte ich händeringend nach französischen Vokabeln, um den Grund zu erklären, warum ich nicht anders konnte, als genau hier zu parken. Frédéric half mir dabei, indem ich ihm auf Englisch sagen konnte, was er den Beamten auf Französisch sagen sollte. Ziemlich adrenalisiert erklärte ich, dass ich ein deutscher Fahr - anfänger auf einem spanischen Camión wäre, ich meine Fahrzeit schon völlig überschritten hätte und das ich aus lauter Verzweif - lung und Angst vor einer Polizeikontrolle mir nicht anders zu helfen gewusst hätte, als meinen Freund mitten in der Nacht aus dem Bett zu werfen, um bei ihm ein paar Stunden zu schlafen und den Truck hier stehen zu lassen. Nur ein Gefühl der Unruhe hätte mich noch mal zurückkehren lassen – und jetzt das hier ... und ob ich jetzt eingebuchtet werde oder ob ich im Lkw schlafen darf oder soll? Sie redeten alle beruhigend auf mich ein; ich sollte mich jetzt ganz ruhig hinters Lenkrad setzen und einfach wegfahren. Aber ich darf doch nicht mehr fahren. Meine Tachoscheibe. Was, wenn ich in eine Polizeikontrolle gerate? Die nehmen mir doch den Führerschein weg oder buchten mich sogar ein, oder nicht? Sie wurden langsam ungeduldig; garantierten mir, dass mir nie mand den Führerschein wegnimmt oder mich einsperren würde und dass es wenige Kilometer geradeaus weiter ein sehr ruhiges Industriegebiet gäbe, dort sollte ich mich aufs Ohr legen, aber ich solle endlich abhauen ... aber dalli! Na gut, dachte ich, deren Wort in Gottes Ohr, ich verabschiedete, bedankte und entschuldigte mich bei Frédéric für die letz- ten zwei Stunden und fuhr los. Das Industriegebiet fand ich natürlich nicht, aber dafür eine Art Sackgassen asphalt feldweg inmitten von sowas wie Schrebergärten in Plaisir. Dort fiel ich wie ein Sack hinter den Sitz und dachte nur noch: schlafen, schlafen, schlafen ...


Dienstag, 04.10.2005 – Beinahe in Neauphle le Château

Irgendwann vormittags wurde ich wieder wach. Ich befand mich ganz in der Nähe von Aurelies Vater Gilles. Vor 20 Jahren und ein paar Wochen lernte ich ihn auf dem Rückweg einer Reise mit meinem Freund Stephan zum Atlantik kennen, als wir seine Töchter Aurelie und Elvire vom Atlantik hierher brachten. Er ist Maler und wohnt in einem phänomenalen alten Häus - chen in der Grande Rue, was zwar große Straße heißt, aber für einen Besuch mit meinem Camión absolut ungeeignet ist. Zuletzt hatte ich ihn vor zwei Jahren im November mit Miriam auf dem Weg nach Spanien besucht. Er wäre bestimmt auch nur erschrocken, wenn ich mit dem DAF vor seiner Tür gehupt hätte. Ich ließ es sein und fuhr zuerst ein Stück zurück bis Versailles. Dort nahm ich die N10 über Rambouillet bis Ablis und dort die N191 bis zur A10. Dann fuhr ich den ganzen Tag monoton geradeaus und dachte über die Lichtgeschwindigkeit nach: Also wirklich nichts solle schneller sein als das Licht? Aber was ist, wenn ich mir nun einen Bleistift vorstelle, der von hier bis zum Mars reicht. Ich weiß nicht, wie weit das sein könnte, aber um leichter rechnen zu können, sagen wir mal 100 Millionen Kilometer. Also ungefähr 260 mal so weit, wie von hier zum Mond. Zum Mond braucht das Licht etwas mehr als eine Sekunde, zum Mars bei der angenommenen Entfernung etwa vier bis fünf Minuten. Wenn ich nun an dem Bleistift ziehe oder schiebe, dann dauert das doch keine fünf Minuten, bis das am anderen Ende einer bemerkt? Wenn nun ein Astronaut auf dem Mars am anderen Ende des Bleistifts sitzen würde, dann müsste der mir doch im selben Moment durch Ziehen oder Schieben signalisieren können, dass er meine SMS empfangen hat. Und was, wenn der Bleistift sogar bis in ein anderes Sonnensystem reichen würde? Bis zu Planeten, die unsere Teleskope erst in zig Millionen Jahren sehen können, weil das Licht so lange unterwegs ist? Wären dann so was wie Bleistift-Morse-Zeichen-Emails ohne Zeitverzögerung zu anderen Planeten möglich? Na ja, wahrscheinlich nicht, sonst wäre da schon längst mal einer drauf gekommen. Irgendwann abends kam ich schließlich zum Autobahnpark - platz Cestas kurz hinter Bordeaux und machte noch einen Spaziergang durch den Andenkenladen, bevor ich die Augen zumachte.


Mittwoch, 05.10.2005 - Vier Explosionen an einem Tag

Morgens um 7:00 Uhr telefonierte ich von einer Telefonzelle aus mit meinem Freund Peter in Greifswald; ich wusste dass er um diese Zeit kurz davor war, zu seiner Arbeit zu pirschen. Er hatte lange nichts mehr von mir vernommen und freute sich sehr, von meinen amüsant-schrecklichen Abenteuern zu hören. Wenige Stunden später lief ich wieder in San Roman ein. Meine Stimmung befand sich zwischen Freude, meinen Kleinen bald endlich wiederzusehen und Zorn, kurz danach schon wieder fort zu müssen, so ein scheiß Leben. Im Hof wartete schon ein Kollege, der meinen Auflieger ins innere Spaniens übernehmen sollte. Wieso das denn? Sollte ich nicht weiterfahren? Da rief auch schon mein Boss an und gab mir das Kennzeichen eines Hängers, den ich in Verdun entladen sollte. In Verdun? Schon wieder zurück ... fast bis Deutschland? In Verdun kannte ich niemanden und es würde ein trostloses Wochenende auf einem Parkplatz auf mich warten!? Da platzte mir an diesem Tag das erste Mal der Kragen und es war mir nicht möglich, weiterhin mit stoischer Gelassenheit eine möglichst professionell wirkende Haltung zu bewahren. Ich fing an, wie ein explodiertes Wildschwein ins Telefon zu brüllen, mein Boss brüllte zurück. Nach einem kurzen sinnlosen Gebrülle, bei dem keiner richtig verstand, was der andere sagte, meinte mein Boss, wir legen jetzt auf, er würde in einer Stunde noch mal anrufen. Gleich darauf kam mein Kollege aus dem Büro zurück und fragte mich nach den Frachtdokumenten für die Ladung meines Hängers. Frachtdokumente? Ich hatte doch nichts weiter als einen ganzen Hänger voll mit alten Holzpaletten? Frachtdokumente hätte ich nicht. Jetzt fing der an zu brüllen und ich verlor zum zweiten mal die Fassung. Wir standen neben meinem Camión und brüll- ten uns sinnlos an. Ich wäre ein Vollidiot, wie kann man nur so blöd sein, ohne Frachtpapiere loszufahren. Ich brüllte zurück: Er wäre selber ein Vollidiot. Die in Gent hätten mir keine Zettel gegeben. Ich wäre noch mehr Vollidiot, die kriegt man auch nicht gegeben, er kenne Volvo in Gent, da hätte ich halt mal nach dem Laden die Treppe hochgehen müssen, statt einfach loszufahren. Ich erwiderte, er wäre selber noch mehr Vollidiot, das hätte mir nämlich keiner gesagt. Er warf einen Packen Zettel, den er in der Hand hielt auf den Boden und meinte, alles Scheiße, er hätte die Schnauze voll bis oben hin, soll den Scheiß-Auflieger doch übernehmen wer will, er jedenfalls nicht. Er bedauerte noch, dass mich auf meinem Weg nicht irgendwo die Polizei nach den Papieren gefragt hätte, da hätte ich aber mal was erleben können. Dann zog er vondannen. Ich verkrümelte mich wieder ins Führerhaus und glotzte wie eine kranke Kuh wartend aus dem Fenster. Da rief Miriam an und ich versuchte ihr zu beschreiben, wo ich war und wie es mir ging. Noch während ich mit Miriam sprach, hatte ich auch schon wieder meinen Boss auf dem Diensthandy am anderen Ohr: Ich sollte den Auflieger mit den Paletten einfach abhängen und stehenlassen. Als er mir das Kennzeichen eines anderen Hängers mit Zielort am anderen Ende Spaniens in Sevilla gab, fing es schon wieder an zu brodeln und kurz darauf verlor ich wieder die Fassung, Explosion Nummer Drei. Uns gegenseitig wüst beschimpfend, meinte ich zum Schluss, dass ich überhaupt nirgends mehr hinfahren würde und er seine Scheiße alleine machen sollte. Ich wollte nur noch nach Haus. Wir legten wieder auf. Jetzt erst bemerkte ich, dass Miriam immer noch am anderen Handy war und alles mitanhören musste. Sie war ziemlich erstaunt darüber, über welch umfangreiches Proletenvokabular in spanischer Sprache ich nach so wenigen Wochen auf der Landstraße verfügte und meinte noch, dass ihre Mutter dank Lautsprechtaste ebenso mitgehört hätte und nicht nur erstaunt über mein Vokabular gewesen wäre, sondern auch entsetzt, zu welchem Tonfall ich mich hinreißen lassen könnte. Wenn ich Neuigkeiten hätte, solle ich wieder anrufen. Ich blieb jetzt erst mal ne ganze Weile einfach sitzen und dampfte vor mich hin. Als meine Zellen wieder ein wenig wohltemperierter waren, rief mein Boss einigermaßen freundlich an und fragte, was ich davon halten würde, den Sevilla-Auflieger wenigstens bis nach Valladolid zu bringen. Ich willigte ein und fing an, den Paletten- Auflieger abzuhängen. Stellfüße runtergekurbelt, Verbindungsleitungen abgezogen, jetzt nur noch den Sicherungsriegel öffnen ... und was war jetzt schon wieder los? Der wollte nicht aufgehen. Beim besten Willen nicht. Selbst als ein paar herumstehende Kollegen zu Hilfe kamen – keine Chance. Bevor ich fast wieder so weit war, meinen Kopf am liebsten gegen eine Wand zu hauen, gelang es dann aber irgendwie doch und mein DAF war frei für seine letzte Fahrt mit mir als Chauffeur. Jetzt nur noch den Frachter für Andalusien finden und nichts wie ab nach Hause. Der ließ sich auch ohne Probleme anhängen, hatte allerdings eine ziemlich aufgerissene Seitenwandplane, die wäre wohl nach wenigen Kilometern in die baskischen oder kastilischen Äcker geflogen. Nach einem Telefonat mit meinem Boss fuhr ich das Ding erstmal in die Werkstatt auf dem Gelände und ließ die Plane flicken. In mir rumorte immer noch eine Mischung aus Erschöpfung, diverser Aggressionen und Ungeduld, endlich hier wegzukommen. Nachdem die Plane geflickt war, gab mir jemand Handzeichen, ich sollte aus der Werkstatt hinaus nach rechts wegfahren. Weil ich aber ein Verbotsschild für diese Richtung entdeckte (hier war Einbahnverkehr) steuerte ich nach links. Durch meine im Stand zwischen Zugmaschine und Auflieger schon nach links geknickte Stellung hatte ich nach rechts hinten keine Sicht im Spiegel. Auch hatte der Handzeichengeber mir nur ein Handzeichen gegeben, ohne mir den Grund dafür zu verraten, wieso ich nach rechts steuern solle. Ich zog also nach links, der Hintern meines Aufliegers scherte nach rechts, und da ich dort im Spiegel nichts sehen konnte, bemerkte ich erst durch ein knirschendes Krachen, dass ich den Rahmen des Werkstatttores aus der Verankerung gerissen hatte. Ich glaube es war heute zum vierten Mal, dass ich die Fassung verlor ... und bevor das Geschrei der versammelten Mechaniker richtig laut werden konnte, war ich es, der nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ am lautesten von allen sinnlos rumbrüllte. Die Schlagkraft ihrer Verbalattacken entwaffnend, gab ich allen uneingeschränkt recht und das am lautesten von allen: „Schlagt mich tot!“ „Ich bin das größte Arschloch, das auf der Welt rumläuft!“ „Ich will sowieso nicht mehr leben!“ „Fahrt mich einen Berg hoch und werft mich wieder runter!“ „Erschießt mich oder fahrt mich einfach mit meinem eigenen DAF platt!“ So oder so ähnlich mag ich mich geäußert haben und die meisten kriegten sich deshalb schnell wieder ein. Nur einer war wirklich so sauer auf mich, dass er mich am liebsten verprügelt hätte. Da ich ihm aber weiterhin lautstark zu allem recht gab, was er mir an den Kopf warf, fand er vor Zeugen keinen ausreichenden Grund, mir den ersten Schlag zu verpassen. Und da ich ihm auch nicht den Gefallen tat, mich zum Erst - schlag provozieren zu lassen, nahm ich ihm die Freude, mir mit Genuss das Echo zu verpassen. Als es wieder ruhiger geworden war, rief mein Boss wieder an und ordnete an, dass ich Sevilla wieder abhängen sollte, für diesen Frachter wäre schon ein anderer Fahrer auf dem Weg zu mir. Ich solle eine Ladung für Valladolid andocken und einfach nach Hause kommen. Ergeben stellte ich meinen Zug an einen geeigneten Platz und wollte Sevilla abhängen. Ging schon wieder nicht, verdammte Drecksmaschine. Ging wirklich nicht, auch nicht mit dem Boss am Telefon in der einen Hand und den Hebeln in der anderen. Auch als der andere Fahrer eintraf, der meinen Hänger übernehmen sollte und dieser und noch ein anderer ihr Bestes gaben, es war nichts zu machen. Mein Boss bat mich, nochmal in die Werkstatt rüberzugehen und Verstärkung zu holen. Aber als ich dort ankam, war das Tor geschlossen und kein Mensch zu sehen. Na klar: Siesta und die dauert drei bis vier Stunden. Als ich wieder zurück war, war auch keiner meiner Kollegen mehr zu sehen. Ich suchte sie auf dem ganzen Gelände, waren aber nirgends zu finden. Nicht draußen, weder im Restaurant, noch in der Hotel - bar, nirgends eine Spur von ihnen. Ich probierte noch eine Weile alleine mein Glück mit der Technik, gab aber irgendwann auf. Nach etwa einer Stunde sah ich die beiden ganz locker und entspannt aus Richtung Geländetor heranspaziert kommen. Sie wären mit dem Auto woanders zum Essen gefahren, wo es besser schmeckte. Na super, fiel mir da ein, ich hatte heute ja schon wieder mal nichts gegessen. Unser Boss machte den Vorschlag, ich sollte jetzt Sevilla dran lassen und zur Firma nach Valladolid fahren, damit er mir mal zeigen könnte, wie einfach man einen Auflieger abstellt. Mein Kollege sollte den Valladolid-Auflieger zum Empfänger nach Valladolid bringen und danach zu uns kommen, um Sevilla zu übernehmen. Ich fuhr los und kam gegen 18:30 Uhr am Tor des Geländes an, wo Don Pepito seine Parkplätze hatte. Und schon wieder gab es eine Überraschung – der Pförtner verweigerte mir die Einfahrt. Ich war wirklich ziemlich müde und reagierte genervt: „Das gibt’s doch wohl nicht! Von hier bin ich losgefahren und hier stelle ich wieder ab!“ Außerdem würde da hinten auch noch mein Auto stehen. Er meinte kurz und knapp, dass Don Pepito seine Miete nicht gezahlt hätte und ab sofort habe er Anweisung, kein einziges Fahrzeug von ihm mehr reinzulassen, ich solle mir auf der Straße einen Parkplatz suchen. Zum Glück war auf dem Seitenstreifen alles frei und nachdem ich gewendet hatte, konnte ich gleich stehenbleiben. Ich rief Pepito an und fragte wo er denn wäre und was hier los sei. Er antwortete nur, er hätte ein paar Probleme, aber gleich da wäre. Während ich auf ihn wartete, lief ich zurück zum Gelände und holte schonmal mein Auto. Dann rief ich Miriam an und sagte ihr, dass ich schon zurück wäre, es würde aber noch etwas dauern, bis ich käme. Als mein Boss nach einer knappen Stunde endlich anrauschte, fing er auch sofort ohne viele Worte an, sich über den Auflieger herzumachen. Er kurbelte und zerrte schwitzend bestimmt eine weitere Stunde an allen Ecken und Enden herum und sagte auch nichts dazu, als ich wortlos nach und nach meine sämtlichen persönlichen Sachen aus dem Führerhaus in mein eigenes Fahrzeug umlud. Gegen 21:00 Uhr telefonierte er und erklärte mir dann, dass ich den Zug zur Werkstatt nach Boecillo fahren und dort auf ihn warten müsse. Gutmütig, wie ich vor lauter Müdigkeit mittlerweile war, tat ich ihm diesen Gefallen, irgendwie hatte ich tiefes Mitleid mit diesem Hornochsen, dem alles über den Kopf zu wachsen schien. Irgendwo in meinem Innern war er mir trotz allem irgendwie sympathisch, er war jedenfalls nicht so ein schlüpfriger Aal wie mein erster spanischer Arbeitgeber. In Boecillo erwarteten mich mittlerweile mehrere Mechaniker mit schweren Geschützen und nach einer weiteren knappen Stunde hatten sie die Verbindung tatsächlich geöffnet. Nur von meinem Boss war weit und breit nichts zu sehen. Als ich ihn anrief meinte er, er wäre verhindert, ich solle die Zugmaschine zurück zum Gelände fahren und morgen früh um 9:00 Uhr ins Büro kommen, zum Büro hätte er noch Zugangs - berechtigung. Da kam auch schon mein Kollege angetuckert, der den endlich gelösten Anhänger an seinem Traktor festmachte. Als er erst noch einmal wegen der Frachtpapiere zu einer kleineren Nieder - lassung von Mariposas bei Valladolid fuhr, fuhr ich ihm nach, es lag ja auf meinem Weg. Während wir dort einen Kaffee tranken, meinte er, wir würden uns ja wohl noch öfter sehen. Ich erwiderte, dass das wohl eher unwahrscheinlich sei, ich würde mir morgen früh die Papiere holen. „Na ja“, erwiderte er, „muss jeder selber wissen.“ Dann machte er sich auf den Weg nach Sevilla und ich zurück zum Straßenrand vor Don Pepitos Büro. Dort stieg ich in mein Auto und fuhr endlich nach Hause. Um diese Zeit einen Parkplatz zu finden, war das Letzte, was mich an diesem Tag nerven sollte, gegen Mitternacht schloss ich endlich die Haustür auf. Miriam erwartete mich mit fragenden Blicken, unserem schon längst schlafenden Kleinen gab ich noch einen Gute-Nacht-Kuss und dann fiel ich, ohne vorher viel berichten zu können, in einen tiefen Schlaf.


Donnerstag, 06.10.2005 - Hasta la Vista und Adiós

Um 9:00 Uhr war ich wieder im Büro und ließ meine Papiere fertigmachen. Ich hatte am Ende so viele spanische Zettel unterschrieben, dass ich zu Carmen sagte: „Na, hoffentlich habe ich jetzt nicht die ganze Firma gekauft ..?“ „Nein, nein“, beruhigte sie mich, das wäre ganz normal und müsste immer so gemacht werden, ginge nicht anders. Ihr Onkel saß die ganze Zeit schweigend in irgendwelche Papiere vertieft an einem anderen Tisch. Nur als ich ging, sagte er freundlich „Adiós“ und wünschte mir alles Gute. Vom Auto aus rief ich Miriam an, um zu berichten. Als ich ihr die diversen Durchschläge vorlas, meinte sie, sie hätte mir doch ausdrücklich gesagt, auf keinen Fall die „Nomina“ zu unterschreiben. Was weiß ich, was eine „Nomina“ ist?! Ich hatte damit jedenfalls unterschrieben, meinen Lohn erhalten zu haben. Miriam wies mich an, nochmal hoch ins Büro zu gehen und mir auf einem Zettel bestätigen zu lassen, dass meine Unter - schrift auf der „Nomina“ nur die Richtigkeit des Betrags bestätigt, dass der Betrag aber noch nicht ausgezahlt sei. Wieder oben im Büro meinte Carmen mit Blick zum Onkel, dass sowas nicht gehen würde. Don Pepito war der gleichen Meinung und erklärte mir in Paragraphen-Spanisch, dass so alles seine Richtigkeit hätte. Ich meinte, ich würde nichts von spanischen Paragraphen verstehen, aber meine Frau um so besser. Ich rief Miriam an und gab Don Pepito das Telefon. Es gab eine ziemlich aufgebrachte, aber zivilisierte Debatte, von der ich nicht viel verstand, nur dass der Papierkram so bliebe wie er ist und dass Pepito der Meinung war, von mir betrogen worden zu sein. „Wieso das denn?“, fragte ich, worauf Pepito erklärte, ich hätte sagen müssen, dass ich noch nie einen Auflieger angehängt hätte. Mit einem Blick zu Carmen, die sich rot werdend abwendete, entgegnete ich, dass ich das seiner Nichte aber sehr wohl noch vor meiner ersten Fahrt ausdrücklich gesagt hätte. Oder warum sonst hätte Carmens Schwager mir das am ersten Morgen zeigen sollen, wobei er mir noch nicht mal Zeit gelassen hätte, es auch selber zu probieren ? Don Pepito blieb dabei, dass ich ihn betrogen hätte, aber ich solle mir keine Sorgen machen, ich würde das Geld, das mir zustünde, schon bekommen. Mir war klar, dass darauf zu warten sinnlos war. Daher verabschiedete ich mich ruhig und zivilisiert und betrachtete das Ganze als kostenlose Fahrschule, für die ich in Deutschland 70 Euro die Stunde bezahlt hatte. So entspannt sahen das aber nicht alle meiner Kollegen, einige Wochen später zeigte mir Miriam ein Foto in der Zeitung mit den verkohlten Überresten des Fuhrparks von Don Pepito.


Und so ging’s weiter . . .

In den folgenden Tagen waren wir nicht immer der gleichen Meinung wie es weitergehen könnte oder würde, aber Miriam, die beste Ehefrau von allen (wir sind zwar nicht verheiratet, ich hab die Formulierung aber trotzdem von Ephraim Kishon geklaut) erlaubte mir, vor dem nächsten Spediteur einen Grafitti- Kurs zu belegen. Ich versprach ihr, mit dem durch die Bemalung von Lastwagen über uns hereinbrechenden Reichtum ein Schloss im Dorf ihrer Vorfahren zu bauen. Obwohl sie an der Realitätsnähe meines Traumes zweifelte, ließ sie mich gewähren, sie wusste wohl schon vorher, dass ich bald wieder freiwillig auf einem Camión sitzen würde. Mein einziges Werk, dass ich im Rahmen meines Kurses geschaffen hatte (Bambi mit Hase) hängt im Kinderzimmer unseres Sohnes ...


- Brottransporte

Mein nächster Boss war ein selbständiger Brottransporteur, der für einen spanischen Brotkonzern Backwaren von einer Fabrik zur anderen fuhr, hauptsächlich jedoch von Valladolid nach Madrid und nach Murcia am Mittelmeer. Er hatte einen großen und einen kleinen Lkw, die er je nach Volumenbedarf einsetzte. Bevor er mir einen Arbeitsvertrag anbot, solle ich zunächst nur so zum Kennenlernen bei ihm mitfahren. An meinem ersten Tag bei ihm fuhren wir nach Madrid in eine Fabrik direkt an der neuen Piste des Madrider Flughafens. Das gegenüber der Fabrik gelegene weiße Kreuz auf einem Berghang würde ich in Zukunft noch häufig aus dem Flugzeug zu sehen bekommen. Ich wurde von meinem neuen Boss zu einem leckeren Mittagessen in die Kantine eingeladen. Beim Essen entschuldigte er sich, dass es hier normalerweise besser schmecken würde. Worauf ich erwiderte, dass ich es wichtig fände, auch immer mal wieder was Schlechtes zu essen, um sich daran zu erinnern und nicht zu vergessen, wie wertvoll doch gute Küche ist. Der Genuss einer gelungenen Mahlzeit steigert sich doch auch mit dem Wissen, welche Katastrophen sich auf manchen Tellern befinden können. Das perfekte Essen jeden Tag wird bald zur routinierten Selbst - verständlichkeit und der mit der Zubereitung betraute Koch oder die Köchin wird selten ein Lob zu hören bekommen. Meinem Boss gefiel dieser Standpunkt sehr gut. Kurz darauf waren wir mit Laden dran. Ich hätte ihm ja gerne gezeigt, wie gut ich einen Auflieger auch in dieser etwas schrägwinkeligen Rampensituation an die Rampe schieben kann, aber er hatte Angst. Er war nicht der übliche Transporteur, der einen Camión als Werkzeug betrachtet, das auch mal einen Kratzer abkönnen muss, er pflegte seine Fahrzeuge wie ein anderer vielleicht sein Pferd. Er fuhr den ganzen Weg auch wieder zurück, ohne mich auch nur ein einziges Mal ans Steuer zu lassen. Am nächsten Morgen stand ich pünktlich am Fabriktor. Hier erreichte mich sein Anruf, dass er etwas später kommen würde. Aber auch nur, um die Fahrzeuge zu waschen, heute wäre Streik im Transportgewerbe. Wegen der Dieselpreise; und es wäre jedem Fahrer anzuraten, sein Fahrzeug stehenzulassen. Tatsächlich häuften sich in den Nachrichten die Meldungen von in Brand gesetzten Fahrzeugen, deren Fahrer beim Streik nicht mitspielen wollten. Besonders gefährlich wurde es für die, die auf ihrer Route zum Schlafen auf der Rückbank einen Parkplatz angefahren hatten und dort von den Flammen geweckt wurden. Todesfälle hat es aber meines Wissens zum Glück keine gegeben. Da hieß es also abwarten bis der Streik vorbei war. Ungefähr eine Woche später fuhren wir zu einer Brotfabrik nach Murcia. Auf dem Rückweg durfte ich auch ein Stückchen fahren. Er hatte an meinem Fahrstil zwar nichts auszusetzen, machte mir sogar Komplimente; er kritisierte nur zu häufiges Verlangsamen hinter einem Langsamfahrer und wieder Beschleunigen und Überholen, wenn hinter mir wieder frei war. Diese Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer würde ihn bei so und so vielen Wieder - holungen täglich, mehrere hundert Liter Diesel im Monat kosten. Also: Wenn vor mir einer langsamer fuhr, sofort links rüber und überholen. Sollen doch die Hinterleute bremsen. Als wir wieder zuhause waren, verabredeten wir uns für den nächsten Morgen. Bei der nächsten Fahrt würden wir auch über den Arbeitsvertrag sprechen. Ich war pünktlich und er auch. Er sagte mir allerdings, dass er heute und in Zukunft lieber alleine fahren würde, er hätte die ganze Nacht darüber gegrübelt. Auf der einen Seite hätte er zwar gerne zur eigenen Entlastung einen Fahrer, der es ihm ermöglichte, auch ein bisschen sein Zuhause und seine Familie zu genießen, aber er hätte auch seine Zweifel. Er hätte schon mal einen Fahrer gehabt, der sogar jahrelange Erfahrung zu bieten gehabt hätte, aber trotzdem hätte sein Camión alle paar Wochen zur Werkstatt gemusst. Seit fast einem Jahr führe er alleine und seitdem wäre keine einzige Reparatur mehr fällig gewesen. Nichts für Ungut, ich wäre ihm zwar sehr sympathisch, auch bescheinigte er mir ausreichende Fahrkenntnisse, aber er hätte heute Nacht vor Grübelei fast kein Auge zugemacht. Er schenkte mir noch ein Toastbrot und eine Tüte Donuts und machte sich wieder auf den Weg.


- Autotransporte

Miriam war natürlich genauso enttäuscht wie ich über diesen Verlauf und Ausgang. Wenige Tage später machte ich mich mit meinem Schwager Carlos auf dessen eigenen Autotransporter auf den Weg durch Spanien. Da ich mir hierzu keine Notizen machte, weiß ich nicht mehr genau, wann wir wohin gefahren sind; zentrale Anlaufstelle war immer wieder eines der riesengroßen Lagerfelder für fabrikneue Autos aller Marken bei Madrid. Je nach Ladeerfahrung bekommt ein gewiefter Fahrer neun bis zehn Autos hinten drauf, manche sogar elf. Mit einem geübten Auge für die Form werden die Fahrzeuge oft abenteuerlich ineinander geschachtelt, um ja keinen Lade - platz zu verschenken. Sieben Autos aufzuladen, verteilt auf zwei Reihen, vier in die obere Reihe, die bis übers Führerhaus geht und drei in die untere, wäre auch für einen Anfänger wie mich kein Problem. Da aber jedes transportierte Auto bares Geld wert ist, wird jeder mögliche Millimeter, manches Auto beinahe hochkant stehend, ausgenutzt. Nur: Wenn dabei auch nur ein Kratzerchen an ein Auto kommt, war die ganze Mühe umsonst; die Ladung ist zwar versichert, aber da Vollkasko für einen Transporteur wie Carlos unerschwinglich ist, hat er eine Selbstbeteiligung von nur 300 Euro. Was Lackschäden kosten, weiß der eine und andere sicher aus eigener Erfahrung ... auch in Deutschland. Im Hafen von Barcelona hat zuerst Carlos beim Abladen eine Delle in eine Stoßstange gefahren und ich beim Aussteigen auf der oberen Etage des Transporters mit der Fahrertür eines Wagens die Reling touchiert. Am nächsten Morgen auf dem Weg nach Valencia wurde er mit 60 km/h an einer Stelle gestoppt, wo nur 50 km/h erlaubt waren, noch mal 220 Euro futsch, schon 820 Euro minus in der ersten Woche ... sehr ermutigend. Ich hatte zwar insgeheim damit gerechnet, bei meinem Schwager ein paar Kröten verdienen zu können, jetzt hatte ich aber eher das Gefühl, dass ich noch nicht einmal die Restau - rantbesuche verdient hatte, zu denen mein Schwager mich einlud. Aber er wehrte sich vehement, als ich beim nächsten Mal die Rechnung zu bezahlen gedachte. Bei anderer Gelegenheit gelang es auch nur, weil ich mich vor dem Abräumen unter einem Vorwand davonschlich und vor ihm verborgen heimlich an der Theke zahlte. An Álvaros ersten Geburtstag, einem Freitag, kamen wir erst weit nach Mitternacht zurück nach Valladolid, weil wir erst einen halben Tag im Hafen von Santander untätig rumstehen mussten, ehe wir mitten in der Nacht mit dem Laden beginnen konnten; um anschließend noch 300 km nach Hause zu fahren ... Die anderen Herumstehenden langweilten sich genauso wie wir und es war schon ganz schön kalt; war ja auch schon fast Mitte November. Ich kam mit einem anderen vermeintlichen Fahrer ins Ge - spräch, ein Italiener, den es der Liebe wegen nach Spanien, nach Alicante, verschlagen hatte. Schon hatten wir die erste Gemein - samkeit. Die zweite war, dass er auch nur mal aus Neugier bei einem Freund mitgefahren wäre; eigentlich wäre er Designer und arbeite mit einer südspanischen Küchenfabrik zusammen. Ich erzählte ihm von meiner Glaskunst und er meinte, ich müsse ihm unbedingt mal was schicken, das wäre sehr interessant. Das hab ich dann auch getan, danach aber nie wieder von ihm gehört. Vielleicht höre oder lese ich aber von Ihnen, geschätzte Leserin, werter Leser? Ich würde mich freuen. Information zur Glaskunst auf meiner HP: www.mfglas.de Die zweite Woche mit Carlos blieb ohne finanzielle Schäden; wir kamen dabei auch ganz schön rum. Die einzige spanische Provinz, die wir nicht streiften, war, glaub ich, Galizien. Ansonsten ging’s nach Cádiz, Sevilla, Córdoba, Cáceres, Toledo, Cuenca, Ciudad Real, Valencia, Zaragoza, Oviedo, um nur ein paar Anfahrstationen beim Namen zu nennen. Allerdings: Wirklich gesehen haben wir außer den Autobahnen und Landschaften zwischen den Städten so gut wie nichts, aber das ist in diesem Job halt normal. Die ausgedehnten Monokulturen fallen hierbei jedoch deutlich auf: In der Gegend, aus der wir herkamen, fast ausschließlich Pinienwälder (Tierra de los pinares), dazwischen große Acker - flächen mit hauptsächlich Kartoffeln, Getreide und Zuckerrüben. Um Salamanca herum fast ausschließlich riesige steineichenbestandene Wiesen mit den für ihren edlen Schinken berühmten Schwarzfuß-Schweinen; ab und zu auch mal ein Kampfstier dazwischen. Um Córdoba bis zum Horizont nur Olivenbäume und hinter dem Horizont bis zum nächsten wieder nur Oliven - bäume. Das gleiche Spiel um Valencia herum, hier allerdings mit Apfelsinenbäumen. An einem Morgen, als wir uns von Oviedo auf den Weg machten, hörten wir im Radio von einer Explosion in Tarragona mit fünf Todesopfern. Wenig später klingelte das Telefon von Carlos: Olga und die drei Kinder sind tot. Olga war eine Freundin von Miriams Cousine Olga. Schon die Eltern der beiden Olgas waren eng befreundet gewesen und die beiden Olgas waren gemeinsam in Tarragona aufgewachsen. Ihre Töchter Olga zu nennen, war zu Zeiten Francos noch ein Problem, aber mit dem Zusatz Maria hießen die beiden Olga Maria – und das wurde genehmigt. Olga wohnte mit ihrem Mann und den drei Kindern im vierten Stock eines Hauses in der Altstadt von Tarragona, das jüngste Kind, erst wenige Monate alt, hing gerade an der Brust, als Olgas Mann Gas roch und dem Geruch nachgehend, hinaus in den Flur trat. In der nächsten Sekunde gab es einen riesigen Schlag und als er zurück ins Wohnzimmer stürzen wollte, war hinter der Tür nur noch ein riesiges Loch – seine Familie lag sterbend auf der Strasse und von der Wohnung war fast nichts mehr übrig. Die Überreste der Wohnung und des Opfers eine Etage darunter ließen keine eindeutige Klärung zu, ob es sich um einen Unfall gehandelt hatte oder um Selbstmord ... Die Vorstellung, so etwas als einziger überleben zu müssen, macht so ziemlich alles, was mir bisher als ein „ach so großes Unglück“ erschien, zu einer doch wirklich lächerlichen Lappalie. Kurz danach hatten wir in Madrid mehrere Fahrzeuge geladen, zwei davon waren Lieferwagen, ein gebrauchter, der schon ein paar Kratzer und Beulen hatte, sowie auch ein nagelneuer Gefrier guttransporter. Mit dieser Fracht mussten wir auch durch eine ziemlich bergige Gegend zwischen den Pyrenäen und Barcelona, von Vic nach Olot. Ich sollte wenig später aus den Nachrichten erfahren, dass über Nacht zahlreiche Einwohner von Vic zu Millionären geworden waren, nachdem „el gordo“ (der Dicke) der Weihnachtslotterie auf eine dort verkaufte Losnummer gefallen war. Eine gut ausgebaute Straße, die Carlos kannte, konnten wir nicht nehmen, unsere Fracht mit über 4,50 m Höhe wäre hier an einer zu niedrigen Brücke hängengeblieben. Als Beifahrer war ich der Kartenleser und so dirigierte ich uns über kürzeste Schleichwege. Carlos war hier vor Jahren zwar auch schonmal gewesen und glaubte, die Strecke zu kennen. Erst als wir an einem Schild mit der Empfehlung, nicht länger als 10 Meter zu sein, vorbeiführen, kamen ihm erste Zweifel. Und tatsächlich waren wir auf einer anderen Straße, als der die Carlos kannte, aber mit 22 Metern Fahrzeug-Länge war es jetzt auch schon zu spät, eine Wendemöglichkeit zu finden. Die Straße wurde schmaler und schmaler, die Kurven immer enger und enger, die nicht mal mit einer Leitplanke gesicherten Abgründe, meistens auf der Beifahrerseite, immer tiefer. Und wenn uns ein anderer Lkw entgegenkam, zwar kürzer als 10 Meter, aber genauso breit wie unserer (was vier- bis fünfmal vorkam) waren immer wir die Dummen, denn wir fuhren auf der Seite des Abgrunds nach unten. Der Gegenverkehr war immer auf der sicheren Seite. Für die 30 Kilometer brauchten wir über eine Stunde, in der ich wirklich schon einkalkulierte, dass auf dieser Strecke mein letztes Stündlein schlagen würde ... Als wir endlich das für Olot bestimmte Auto an seinem Bestimmungsort abluden, kletterte Carlos aufs Dach, um zu sehen, wie das Dach des nagelneuen Kühltransporters aussah. Aber das sah nicht gut aus: übersät mit grünen Streifen der zahllosen Bäume, unter denen wir auf unserem Höllentrip hindurchgekrochen waren. Mit einem Schrubber wusch er die von unten sichtbaren Ränder des Dachs und fuhren danach weiter. Den gebrauchten Lieferwagen fuhren wir nach Figueras, wo das Dali-Museum steht, aber dafür haten wir natürlich keine Zeit, wir mussten ja noch vor Feierabend des Händlers den Kühl - transporter nach Girona bringen. Kurz vor Feierabend abzuladen hat aber auch den Vorteil, dass die Kon trolle auf Lackschäden eher etwas nachlässiger vollzogen wird als z.B. bei einer Anlieferung am Vormittag. Nach dem Abladen, „durften“ wir noch am gleichen Tag auf einem Lagerfeld bei Barcelona neun Peugeots aufladen, um sie nach Madrid zu bringen. Wir fuhren allerdings nur noch bis Zaragoza. Dort legten wir uns (nach einem vorzüglichen Abendessen) auf einem Lkw-Parkplatz von einer in Deutschland unvorstellbaren Größe endlich in die Kojen. Am folgenden Morgen wurden wir von einem fürchterlichen Gebrüll geweckt; es klang, als würde jemand umgebracht. Carlos und einige anderen Fahrer steckten ihre Köpfe aus den Türen und sahen einen Kranwagenfahrer, der mutterseelenallein im Kreis herum stampfte und dabei wie ein Rohrspatz schimpfte und fluchte. Was sich gegen das Führerhaus eines an der Ecke geparkten Sattelzugs mit Mehlzisterne richtete, dessen Front aussah wie ein menschliches Gesicht, in das ein Pitbull gebissen hatte. Als sich in diesem Fahrzeug allerdings nichts bewegte, setzte sich der Kranfahrer wieder in sein Häuschen, fädelte sich auf die Autobahn einund ward nie wieder gesehen. Wenig später regte sich was im Mehltransporter: Der Fahrer kam herausgekrabbelt und verschaffte sich einen ersten Überblick – und erschrak fürchterlich, als er den Schaden am eigenen Fahrzeug entdeckte. Seine erste Fahrt nach der Führerschein - prüfung, der Chef würde ihm den Kopf abreißen. Warum er denn nicht ausgestiegen wäre als der Verursacher noch da war, wollten einige wissen. Das Gezeter des Flüchtigen mit unverhohlener Tötungsabsicht hätte ihn so verängstigt, dass er sich lieber wie ein Mäuschen in seiner Koje verkrochen habe, erklärte er. Ob von uns denn jemand das Kennzeichen notiert hätte, wollte er dann wissen, aber das schien den Zeugen bei der Wegfahrt des Täters nicht wichtig gewesen zu sein. Bei dessen Flucht hatte ja niemand gewusst, worum es überhaupt ging. Trotz anschließender Fahndung in ganz Spanien nach einem Kran mit unbekanntem Kennzeichen, wurde dieser nie ausfindig gemacht; der Schaden blieb am Halter hängen. Carlos meinte dazu nur, wenn ihm das passiert wäre, dann hätte man aber mal sehen können, wer hier von wem totgeschlagen worden wäre ... Wir fuhren unsere Ladung nach Madrid, waren nachts wieder zuhause und hatten endlich Wochenende. Ich sah nicht besonders viel Sinn darin, Carlos eine weitere Woche zu begleiten, das Risiko für finanzielle und körperliche Schäden schien mir unangemessen hoch, um diesen Job irgendwann alleine ausüben zu wollen. Als Beifahrer war ich bestimmt auch keine große Entlastung für ihn gewesen. Gut, zu zweit kann der Zug doppelt soviele Stunden am Stück rollen, als alleine, aber die Ladevorgänge hätte er wohl alleine schneller hinter sich gebracht, ohne mir dabei jeden Handgriff erklären zu müssen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob seine Verluste der ersten Woche einer Unkonzen triert - heit zuzuschreiben sind, die er ohne meine Gegenwart vielleicht besser unter Kontrolle gehabt hätte ...


- Zurück nach Deutschland ?

Die Addierung meiner Einnahmen der letzten 4½ Monate beunruhigten mich derart (und auch Miriam), dass wir es beide für besser hielten, wenn ich zumindest eine Weile in Deutschland versuchte, meine Einnahmesituation zu verbessern. Ende November sattelte ich Rosinante (meinen weißen, rostigen Mitsubishi L 300) und machte mich über die Pyrenäen auf den Weg nach Paris, wo ich bei meinem Freund Frédéric übernachtete. Am nächsten Tag war ich wieder im Odenwald, dessen strotzende Vegetation mir nach jedem längeren Aufenthalt in Kastilien immer wieder Tränen in die Augen treibt. Ich versuchte eine ganze Weile mit aller Kraft die Umsatz - zahlen für meine Kunst zu verbessern, was mir allerdings nur dürftig gelang. Auch meldete ich mich immer mal wieder auf Stellen angebote von Spediteuren, aber die wollten alle keine Führerschein - anfänger. Erst, nachdem ich mich als Fensterputzer und als Aushilfe in einer Druckerei versucht hatte, geriet ich an einen Spediteur in Rodgau, von wo auch die gleichnamigen Monotones kommen. Die Zeit bei dieser Firma war kein Vergleich zu meinen Erlebnissen in Spanien: Ich bekam immer pünktlich mein Geld, ich war abends immer wieder Zuhause und natürlich durfte ich nicht nur, nein, ich sollte mich sogar an die Vorschriften halten. Aber das Beste war, ich dachte ja immer, ich würde Hessen oder wenigstens Südhessen ganz gut kennen – gar nichts kannte ich. Jeden Tag sollte ich neue Orte und Menschen entdecken, deren Existenz mir bisher unbekannt war. Nicht nur das Innere von Wiesbaden, Mainz, Frankfurt, Offenbach, Hanau und Aschaffen - burg sollte ich näher kennenlernen, auch den Odenwald, Taunus, Spessart, Vogelsberg und Rhön durchkreuzte ich recht oft auf mir bisher verborgen gebliebenen Wegen. An den verschiedenen Laderampen diverser Firmen traf ich auch die unterschiedlichsten Typen: Richtige Arschgeigen waren darunter, aber auch sehr freundliche und originelle Exemplare. Als ich dann hauptsächlich Tupperware vom Zentrallager bei Darmstadt in verschiedene Bezirkshandlungen zu fahren hatte, kam ich nach ganz Mitteldeutschland, nach Niedersachsen, Thüringen, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland- Pfalz und ins Saarland, allerdings sah ich hier fast nur die Autobahnen. Bis dahin war Tupper für mich nichts anderes als Plastikdose mit Deckel; durch meine Transporte wurde ich aber neugierig und beschloss, mir bei Gelegenheit mal eine Bezirkshandlung von innen anzuschauen. Mehrere Monate fuhr ich durch Deutschland, ohne Unfälle, Ladungsverluste oder sonstige Ärgernisse für meinen Arbeit - geber. Aber da ich von meinem Spediteur nur als Urlaubs- oder Krankheitsvertretung eingesetzt wurde, dauerte es nicht lange, bis ich mal Zeit dafür hatte, mir Tupper von innen anzuschauen. Ich war (und bin) wirklich angetan von dem, was ich kennenlernen sollte. So eine Vielfalt schöner und praktischer Qualitäts- Küchenhelfer in einer mir bisher verborgen gebliebenen Welt ... Dutzende bezaubernder Kolleginnen und eine ganz reizende Chefin, mit einer sehr sympathischen Arbeitsphilosophie, das wollte ich ausprobieren, mal sehen ob mein erster Eindruck sich auf Dauer bestätigt ...